Die Legenden der Blauen Meere, Band 1: Dreckswetter und Morgenröte (German Edition)
aussetzen.«
In meiner Brust begann es zu pochen. Auf einer einsamen Insel ausgesetzt zu werden, bedeutete einen langsamen Tod durch Verhungern. Oder Wahnsinn.
Der Kapitän zuckte zusammen. »Sobald wir über den Schlund gesegelt sind, gibt es in tausend Seemeilen Umkreis keine Insel mehr. Und der vorherrschende Wind macht eine Kehrtwende so gut wie unmöglich –«
»Wir sind aber noch nicht auf dem Schlund, oder? Wir befinden uns noch immer zwischen den Inseln! Garantiert gibt es irgendwo in der Nähe ein hübsches einsames Eiland.«
Der Kapitän schwieg. Pilcher bohrte weiter: »Es gibt eines! Oder? Käpt’n, zwingen Sie mich nicht, meine Rechte –«
»Es gibt eine Handvoll. Im Norden, hinter der Schweine-Insel. Doch wir müssten auf der Stelle den Kurs ändern. Und es ist dunkel und wir stecken in dichtem Nebel –«
»Was hat das damit zu tun?«
»Wir könnten unser Begleitschiff verlieren.«
»Pfffft.« Pilcher machte eine seltsame Handbewegung, als würde er Wasser abschütteln. »Wenn der Morgen kommt, wird sich der Nebel lichten. Er wird merken, dass wir den Kurs geändert haben. Und er wird warten. Wir werden in null Komma nichts wieder aufholen. Zack, zack.«
Der Kapitän seufzte. »Mr Pilcher. Ihre Aufgabe ist es, für Unterhaltung zu sorgen. Meine ist es, uns sicher nach Rovien zurückzubringen. Auf den Blauen Meeren, ich darf Sie daran erinnern, wimmelt es von echten Piraten. Und manche sind wirklich gefährlich.«
»Und die schlimmsten von ihnen beschützen uns! Was haben wir schon zu fürchten?«
»Ihn zu verlieren! Ohne seinen Begleitschutz –«
»Wir werden ihn schon nicht verlieren. Wie lange wird es wohl dauern?«
»Mindestens einen halben Tag!«
»Das ist doch nichts! Den Bengel auszusetzen wird eine unschlagbare Attraktion! Ich sehe schon alles genau vor mir! Und jetzt, Mann, machen Sie kehrt! Wir werden ihn innerhalb eines halben Tages schon nicht verlieren.«
Wen verlieren? Ich erinnerte mich düster an Pembrokes Prahlereien meinem Vater gegenüber, welche Vorkehrungen er getroffen hatte, um die Sicherheit der Irdischen Freude zu gewährleisten. Und dass Millicent mir erzählt hatte, dass ihr Vater die Piraten befehligte. Ich hatte ihr das nicht recht abgenommen. Doch es schien wahr zu sein, zumindest traf es auf einen Piraten zu.
Der Kapitän schüttelte den Kopf. »Ich bin dagegen.«
»Ich benötige Ihre Zustimmung nicht. Ich möchte nur, dass Sie das Schiff wenden. Und zwar schnell – wenn wir die Aussetzung nicht bis Spätnachmittag hinter uns bringen, muss ich das Deckhockey-Turnier verlegen.«
»Beim Allmächtigen … Können wir ihn nicht einfach über die Planke gehen lassen?«
»Das hat überhaupt nichts Mystisches! Plumps, platsch, tot.«
»Er wird auch sterben, wenn Sie ihn aussetzen.«
»Aber niemand sieht es. Es gibt nämlich einen feinen Grat zwischen Unterhaltung und Barbarei. Nun machen Sie endlich! Ich muss planen .« Pilcher öffnete seine Kabinentür und bedeutete dem Kapitän zu verschwinden.
»Nur um das festzuhalten: Sie haben dieses Manöver gegen meinen Rat angeordnet.«
»Ja, ja, ja. Schon gut. Retten Sie bloß Ihren Hintern. Machen Sie einfach! Husch!« Der Chef wedelte mit den Händen und der Kapitän trottete, noch immer kopfschüttelnd, davon.
Pilcher schloss die Tür. Als er sich umdrehte und sich dagegenlehnte, lächelte er wie eine Katze, die eine Maus in den Krallen hält.
»Oje … Ich werde so einen kleinen fiesen Piraten aus dir machen.«
Es war direkt nach dem Frühstück und vierhundert Augenpaare klebten an Pilcher, der rosig und verschwitzt mit dröhnender Stimme von der Bühne im Speisesaal die atemberaubende – wenn auch von hinten bis vorne erlogene – Geschichte meiner Entdeckung und Gefangennahme erzählte.
»Der Matrose Grimsby lag zusammengeschlagen auf Deck, blutend und bewusstlos, in den letzten Zügen, als sich die blutrünstige Kanaille das Messer zwischen die Zähne klemmte und sich mit einem Satz in die Takelage retten wollte …«
Die blutrünstige Kanaille war ich. Ich stand neben Pilcher, die Beine in Ketten, Kopf und Arme in einem improvisierten Joch, das der Schiffszimmermann dermaßen hastig zusammengebastelt hatte, dass sich jedes Mal, wenn ich versuchte, die Haltung zu ändern, neue Splitter in meinen Hals bohrten.
»Wie eine Katze kletterte der Pirat fast fünfzehn Meter auf den Webleinen zu einem losen Tau, von dem er sich, wie ein elender Affe im finstersten Dschungel, über die Köpfe
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