Die Legenden der Vaeter
Polnisch verfasste Postsendungen sortieren die Zensurstellen der Wehrmacht sofort aus. Also schreibt Maria auf Deutsch an ihren Sohn, so wie sie es dreißig Jahre zuvor als Kind in der Schule in Groß Stanisch gelernt hatte, mit Buchstaben, die aus langgezogenen Spitzen und scharf abgezirkelten Bögen zusammengesetzt sind. Sie berichtet von den Fortschritten, die seine Schwestern in der Schule machen, erzählt von der Arbeit im Garten, vom Graben und Hacken, Säen, Pflanzen und Ernten, vom Sturm, der im Winter des Jahres 1943 eine der Tannen am Ende des Grundstücks aus dem Boden gerissen hat, und von den Schwalben, die im Hühnerstall ein Nest gebaut haben. »Mach Dir um uns keine Sorgen, es geht uns gut«, schreibt Maria am Ende eines jeden Briefes.
Sie erwähnt nicht, dass es beim Fleischer in Steblau an den meisten Tagen nicht einmal mehr Abfälle zu kaufen gibt. Sie verschweigt auch die Gestapo-Trupps, die in den Wäldern rund um Lublinitz entlaufene Zwangsarbeiter jagen und eines Morgens kurz vor Sonnenaufgang die Mutter und die ältere Schwester von Alois Gambusch abgeholt haben, weil sie angeblich drei Partisanen in ihrem Haus versteckt hatten. Und sie verliert kein einziges Wort darüber, dass Augustyn sterbenskrank ist.
|68| Die Nachricht vom Tod seines Vaters erreicht Józef in der Bretagne. Seine Wachdienste unter den Palmen von Nîmes gehören der Vergangenheit an. Bereits im Februar des Jahres war er zusammen mit den anderen Angehörigen seines Regiments für eine zweite Ausbildung aus dem Süden Frankreichs zunächst nach Reims verlegt worden. Die Wehrmacht rechnet seit längerem mit einer Landung der Alliierten in Frankreich und versucht nun, aus den über das ganze Land verstreuten Bodentruppen der Luftwaffe Fallschirmjäger-Einheiten zusammenzustellen.
Józef rückt ins Gelände aus, baut Stellungen und probiert den Schützenwechsel am Maschinengewehr. An Bord eines Flugzeugs gelangt er in Reims allerdings nicht. Im Jahre 1944 gibt es kaum noch Treibstoff für die regulären Einsätze der Luftwaffe, Trainingsflüge sind vollkommen ausgeschlossen. Also simuliert er gemeinsam mit den anderen Soldaten den Absprung und das Abrollen am Boden auf dem Hof der Kaserne, mit Hilfe eines wackligen, aus ein paar Latten zusammengenagelten Holzturms und einer viel zu dünnen, mit Stroh gefüllten Matte. Nach ein paar Wochen wird Józef der 3. Fallschirmjägerdivision zugeteilt und von Reims nach Brest verlegt.
Brest ist eine Festung, mit einer riesigen Bunkeranlage im Hafen, in der die U-Boote der deutschen Flotte auf ihren Einsatz warten. Aufklärungsboote und Zerstörer patrouillieren entlang der Atlantikküste, die ganze Stadt befindet sich in einem hektischen Wartezustand. Józefs Einheit wird außerhalb der Stadt in einem provisorischen Feldlager untergebracht. Er verbringt die Tage damit, mit den anderen Soldaten zu würfeln, und manchmal klettert er auf einen der Felsen, starrt auf das stürmische Meer hinaus und sucht den |69| Horizont mit bloßem Auge nach den Landungsbooten der Briten und Amerikaner ab.
Am 20. Mai, einem ungewöhnlich milden Tag, wird er am Morgen zum Kompaniechef gerufen, der ihm ein Telegramm in die Hand drückt, zusammen mit einem fertig ausgefüllten Urlaubsschein. Józef darf nach Hause fahren, um am Begräbnis seines Vaters teilzunehmen.
|70| I ch war für einige Wochen nach Lublinitz gekommen, hatte ein billiges Hotelzimmer genommen und besuchte so oft wie möglich Anna in der
ulica Jagusia,
um von ihr noch mehr über das Leben ihres Bruders Józef zu erfahren. Ich schaute Fotos mit ihr an, trank furchtbar starken Kaffee, den sie ohne Filter im Becher aufbrühte, und aß süßen schlesischen Mohnkuchen. Annas jüngere Schwestern Hilda und Lena waren bereits verstorben, genau wie ihr Mann, und sie nahm mich mit auf den Friedhof an die Gräber der Familie. Sie zeigte mir auch die Grabstelle von Józef, zu der ein schwarzer Marmorstein mit der Aufschrift
requiescat in pace
gehört,
Ruhe in Frieden
.
An anderen Tagen fuhr ich mit dem Auto nach Groß Stanisch, das jetzt Staniszcze Wielkie hieß, um unter den strengen Blicken eines Priesters die Kirchenbücher und Standesregister von Sankt Borromäus durchzusehen, auf der Suche nach Einträgen zu den Familien Koźlik und Wieszolek, Augustyns und Marias Eltern, die vor über hundert Jahren in dieser Gegend gesiedelt hatten. Ich kam mir vor wie einer der Nachfahren der Vertriebenen, die Busreisen nach Polen unternahmen, um die
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