Die Legenden der Vaeter
erklärt, hier werden Waffen und Munition gelagert, die die Wehrmacht bei ihrem Rückzug zurückgelassen hat. Über der Ruine des Rathauses weht eine polnische Fahne, die Fallschirmjäger patrouillieren Tag und Nacht in den Straßen und achten darauf, dass die Sperrstunde eingehalten wird, und wenn die Vertreter der Stadtverwaltung in die Kommandantur einbestellt werden, um neue Anweisungen von den polnischen Offizieren entgegenzunehmen, |112| wird Józef gelegentlich als Dolmetscher dazugerufen.
Er ist dabei, wenn im ehemaligen Haus der NSDAP, das direkt am Schlossteich liegt, Bezugsscheine für Lebensmittel, Waschpulver, Schuhe und Kleidung ausgegeben werden. Ansonsten verbringt er die Tage in einem Jeep, der über die mit Schlaglöchern und Granattrichtern übersäten Landstraßen rumpelt. Die Fallschirmjäger suchen auf den Dörfern rund um Fürstenau nach ehemaligen polnischen Zwangsarbeitern, die nach dem Ende des Krieges auf den Bauernhöfen geblieben waren, weil sie nicht wussten, wohin sie hätten gehen sollen. Die Soldaten bringen sie zu einem der Sammelpunkte im Emsland, zusammen mit den Flüchtlingen, die sie an den Kontrollposten aufgreifen, und gelegentlich werden sie vom Hauptquartier der polnischen Truppen in Meppen angefordert, um einen der Transporte mit Hilfsgütern zu eskortieren, mit Kleidung und Lebensmittelspenden, die aus Großbritannien über Belgien nach Deutschland kommen und für die Lager mit
DPs
in Bramsche und Diepholz bestimmt sind.
Nachts feiern die Fallschirmjäger. Józefs Kompanie trifft sich in dem Haus hinter der evangelischen Volksschule, in dem vor Kurzem noch Lehrer Tatchen mit seiner Familie gewohnt hat. Marianne drängt Józef, sie und Karla mitzunehmen. Nach Beginn der Sperrstunde wartet er vor ihrem Haus, die glühende Zigarette in der Hand verborgen, wie bei den langen Nachtwachen in Frankreich. Er hört, wie ein Fenster vorsichtig geöffnet wird, dann die Schritte von zwei Paar bloßen Füßen im Gras. An der Holzbrücke ziehen Marianne und Karla ihre Schuhe an und haken sich bei Józef unter. Zu dritt gehen sie die Schotterstraße entlang, über |113| den Bahnübergang und weiter, bis sie die Volksschule erreichen. Auf dem Hof ist es dunkel. Sie tasten sich an der Mauer entlang, die den evangelischen Teil der Schule vom katholischen trennt. Dann sind sie da. Eine Tür öffnet sich, laute Musik schlägt ihnen entgegen.
Karla erkennt ihr Elternhaus nicht wieder. Im Flur liegen schwere Stiefel kreuz und quer über den Fußboden verteilt, dazwischen leere Flaschen und zerdrückte Zigarettenschachteln, und über dem großen Spiegel neben der Garderobe hängt eine polnische Fahne. Sie schlägt die Hände vor dem Gesicht zusammen, doch Marianne versetzt ihrer Freundin einen Stoß mit dem Ellbogen: »Stell dich nicht so an.« Vorsichtig steigen sie über die Unordnung hinweg und werfen einen Blick in das Wohnzimmer.
Ein Grammophon läuft, über die Stehlampen sind Tischdecken und Geschirrtücher gebreitet. Als Marianne und Karla sich an das schummrige Licht gewöhnt haben, sehen sie, dass sich gut zwanzig Soldaten über mehrere Sessel und Sofas verteilen. Die Fallschirmjäger, die die letzten Jahre in Kasernen und Feldlagern verbracht hatten, haben Möbel aus requirierten Wohnungen und Häusern in der ganzen Stadt zusammengetragen, zusammen mit dem Grammophon und einem Stapel Schellackplatten. Einer der Soldaten pfeift durch die Zähne, als die beiden jungen Frauen den Raum betreten, ein anderer ruft ihnen ein paar Worte auf Polnisch zu, alle lachen. Erst jetzt sehen Marianne und Karla die Mädchen, die zwischen den Soldaten auf den Polstern sitzen und ihnen zuzwinkern. Sie kennen sich, aus der Schule, aus dem Konfirmandenunterricht, von den BDM-Treffen, von der Badestelle an der Wegemühle. Józef bringt Getränke, Sherry, in den kleinen, geschliffenen Likörgläsern, |114| die Karlas Eltern zur Hochzeit bekommen haben und in einer Vitrine im Wohnzimmer aufbewahren.
Von diesem Abend an stehlen Marianne und Karla sich so oft wie möglich nachts aus dem Haus, um im Schutz der Sperrstunde mit den polnischen Soldaten und den anderen Mädchen aus Fürstenau zu feiern. Es ist wie im Paradies. Whiskey, Brandy, Cognac stehen auf dem Tisch, es gibt Kaugummi, Schokolade und stangenweise englische Zigaretten, und manchmal reißt einer der Fallschirmjäger einen Karton mit Nylonstrümpfen auf. Die Mädchen dürfen sich bedienen. Die Soldaten legen ihnen die Arme um die Schultern,
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