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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kolja Mensing
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die, die ein bisschen Deutsch können, sprechen über den Krieg, und wenn sie betrunken sind, singen sie das traurige Lied von den blutroten Mohnfeldern am Fuße des Monte Cassino, die inoffizielle Hymne der polnischen Exilarmee:
Czerwone maki na Monte Cassino …
    Das ist der Ursprung der Legende vom heldenhaften polnischen Soldaten Józef Koźlik, die mein Vater mir eines Tages erzählen sollte. Jahre später wird Marianne der Name des italienischen Klosters wieder einfallen, als sie in der Kaserne der Bundeswehr vor den Regalen der Truppenbibliothek steht und nach einem Buch für ihren Sohn sucht. Doch jetzt interessiert sie sich nicht für die Geschichten der Soldaten. Sie will feiern, also zieht sie das Grammophon wieder auf und tanzt mit Józef zwischen den Sesseln und Sofas zu Schlagern aus den zwanziger Jahren, bis sie sich auf den Heimweg machen. Auch Karla hat einen polnischen Soldaten gefunden, der sie nach Hause begleiten darf, und Józef und Marianne lassen die beiden vorausgehen, um die Dunkelheit ein paar Minuten lang für sich allein zu haben.
    Dann ist der Sommer vorbei. Ende September, als es kühl |115| wird in den Nächten, wird Józef mit seiner Kompanie von einem Tag auf den anderen aus Fürstenau in den Harz abkommandiert. Großbritannien befürchtet einen Vormarsch der Roten Armee nach Westen und zieht hastig Truppen an der Grenze zur sowjetischen Besatzungszone zusammen, darunter auch Teile der polnischen Exilarmee. Zum Abschied überreicht Marianne Józef ein Porträtfoto mit einer Widmung.
    Im Herbst kehrt er zurück nach Fürstenau. Noch am Abend seiner Ankunft wartet er im Schatten der Hecke auf Marianne. Im Haus hinter der Volksschule wird weiter gefeiert. Marianne und er tanzen, und irgendwann gehen sie die Treppe hinauf, in Karlas altes Zimmer. Die Soldaten haben angefangen, die Möbel zu verfeuern. Der Kleiderschrank, die Kommode, sogar die Bettgestelle sind aus dem Zimmer verschwunden. Auf dem Boden liegt nur noch eine fleckige Matratze, über die Józef hastig eine der Wolldecken mit dem Aufdruck der britischen Armee ausbreitet. Es ist der 21. November 1945. »An diesem Abend wurdest Du gezeugt«, schrieb Józef später an meinen Vater.
     
    Karla, die Freundin meiner Großmutter, hatte Fürstenau Ende der vierziger Jahre verlassen, um in Großbritannien als Krankenschwester zu arbeiten. Als ich sie in einem kleinen Ort in Somerset in Mittelengland aufspürte, musste ich erfahren, dass sie an Alzheimer erkrankt war. Sie konnte sich an nichts mehr erinnern, genau wie Józefs Kamerad, der nach dem Ende der Besatzungszeit in Deutschland geblieben war, in einem Ort nicht weit von Fürstenau, und der nach einem Schlaganfall im hohen Alter sein Gedächtnis verloren hatte.
    |116| Dann wieder erfuhr ich Details, mit denen ich nicht gerechnet hatte. Meine Großmutter war schon einige Jahre tot, als eine Cousine von ihr mir erzählte, dass sie bei der Verlobung zwischen Marianne und Józef dabei gewesen war. Es hatte Russische Eier gegeben, ein Gericht, das in den Jahren vor dem Krieg in Mode gekommen war. Hartgekochte Eier wurden halbiert, auf einem Teller auf einer dünnen Schicht Mayonnaise angerichtet und anschließend mit Kaviar garniert. Die dunklen Regale und Schränke im Kolonialwarenladen Knocke hatten sich nach dem Ende des Krieges wieder gefüllt, echter russischer Kaviar war in Fürstenau allerdings nicht zu bekommen, zumindest nicht für die normalen Bewohner des Ortes. Józef hatte die kleine, mit kyrillischen Buchstaben beschriftete Dose besorgt.
    Als die Teller geleert sind, legt er das Besteck vorsichtig zur Seite und sieht sich um. Es ist nur eine kleine Runde, die sich am 29. April 1946 im Herrenzimmer versammelt hat, Marianne in einem weit geschnittenen Kleid, das ihren Bauch verbergen soll. Am Kopfende des Tisches sitzt ihr Vater Arnold, der kurz nach Weihnachten aus Belgien heimgekehrt war. Er hatte ein knappes Jahr in einem Kriegsgefangenenlager in Ostende verbracht, und der dunkle Anzug, den er an diesem Abend zum ersten Mal seit langer Zeit wieder trägt, ist ihm zu groß geworden. Die Jacke rutscht ihm über die Schultern, als er das Glas erhebt und über den Tisch hinweg einem Mann zuprostet, der einen schweren Siegelring am Finger trägt.
    Marianne hatte Józef von ihm erzählt. Er ist Stammkunde, ein gelernter Stellmacher, der bereits in den dreißiger Jahren einige Möbel in Arnolds Werkstatt hatte schreinern |117| lassen. Während des Krieges hatte er viel Geld

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