Die Legenden der Vaeter
niemand etwas. Nur das Rascheln von Józefs frisch gestärkter Uniform ist zu hören. Das ist die Verlobung. Heiraten wird Marianne erst fünfzehn Jahre danach, allerdings nicht Józef Koźlik, sondern den Stellmacher, der an diesem Abend mit seiner damaligen Frau in der kleinen Runde auf ihr Wohl anstößt. Er ist der Mann, den ich später für meinen Großvater halten sollte.
Das Gymnasium in Quakenbrück, das mein Vater in den sechziger Jahren besuchte, war 1945 von der Armee requiriert worden. Polnische Schulklassen wurden eingerichtet. Die Lehrer waren ehemalige Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, die vor dem Krieg an Schulen in Polen unterrichtet hatten. Jetzt sitzen vor ihnen in den Bänken junge Soldaten, |120| die mit Blick auf die Zeit nach ihrer Entlassung aus der Armee das Abitur nachholen wollen.
Als Józef erfährt, dass er Vater wird, lässt auch er sich für den Besuch der Schule freistellen. Dreimal in der Woche fährt er morgens mit dem Zug von Fürstenau nach Quakenbrück. Er beschäftigt sich mit dem Goldenen Zeitalter Polens unter der Herrschaft der Jagiellonen, er schreibt Aufsätze über den Nationaldichter Adam Mickiewicz und berechnet im Mathematikunterricht Zylinderschnitte und Kugeloberflächen. An den Tagen, an denen er keine Schule hat, verlässt er sein Quartier in der Bahnhofsstraße erst am späten Vormittag und geht zur Tischlerei. Er sitzt in seiner Uniform in der Küche, vor sich auf dem Tisch Streichhölzer und ein Päckchen Zigaretten, und sieht Marianne dabei zu, wie sie Erbsen palt, Bohnen abzieht und Zwiebeln hackt.
Er lernt die kleinen Rituale kennen, die den Alltag im Haus bestimmen, die Kittelschürze, die Anna den ganzen Tag über trägt, den missbilligenden Blick, den sie Arnold zuwirft, wenn er Marianne abends mit einem Teller Essen die Treppe hinauf in die kleine Kammer schickt, in der sein Bruder Karl wohnt. Er verfolgt die Auseinandersetzungen mit Arnolds zweitem Bruder Rudolf, dem Polsterer. Er hat eine Werkstatt in der Stadt und bleibt angeblich nur deshalb mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in den zwei Zimmern im ersten Stock wohnen, weil er hofft, nach dem Tod ihrer gemeinsamen Mutter das Haus zu erben.
Nach ein paar Wochen, in denen Mariannes Bauch immer größer wird, gehört Józef dazu. Nach dem Abendessen bleibt er an seinem Platz sitzen, sieht Arnold dabei zu, wie er aus einem braunen Fläschchen ein paar Tropfen Jod in ein Glas mit Wasser gibt, und wartet darauf, dass Anna das abgegriffene |121| Kartenspiel aus der Schublade des Küchentischs hervorholt. Mariannes Eltern, die mit dem Verlobten ihrer Tochter den ganzen Tag über kaum ein Wort reden, haben nichts dagegen, dass er als vierter Mann beim Doppelkopf dabei ist. Für Józef ist das Spiel neu. Er kassiert einen Stich nach dem anderen, weil er sich nicht merken kann, welche Karten bereits über den Tisch gegangen sind. Doch er hält tapfer durch, wie es sich für einen angehenden Schwiegersohn gehört.
Am Wochenende spielt Józef Fußball. Überall in der britischen Besatzungszone finden Turniere unter den Soldaten statt. Auch die Fallschirmjäger in Fürstenau haben eine Mannschaft aufgestellt. Józef steht im Tor. Nach den Spielen wird gefeiert, und wenn er am nächsten Tag in Mariannes Elternhaus verkatert in der Küche sitzt, schimpft sie mit ihm wie eine Ehefrau mit einem Ehemann. Es sind die ersten kleinen Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden, und wenn Józef wieder einmal für mehrere Tage verschwindet, weil seine Kompanie einen Transport mit Hilfsgütern von Brüssel aus in Richtung des polnischen Besatzungsgebietes begleiten muss, macht Marianne ihm Vorwürfe, dass er sie ständig allein lässt.
Nach seiner Rückkehr ist der Ärger schnell vergessen. Die polnische Exilregierung hat ein Generalkonsulat in Brüssel eingerichtet und koordiniert von hier aus Hilfsmaßnahmen für die Flüchtlinge in Deutschland. Auch eine Gesandtschaft des polnischen Roten Kreuzes befindet sich hier. Die Lager sind gut gefüllt, mit Lebensmitteln, Kleidung und Medikamenten, und Brüssel hat sich zu einem Umschlagplatz für Waren aller Art entwickelt. Józef organisiert nicht nur Babykleidung, Strampler, Jäckchen und |122| Höschen, die aus einem Container mit Kleiderspenden aus den USA stammen. Er bringt Schokolade für Eleonore mit, einen Ballen Stoff für Rudolf, Pfeifentabak für Karl, Herztabletten für die Großmutter und Rasierklingen für Arnold. Er schafft es sogar, ein
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