Die Legenden des Raben 01 - Schicksalswege
auch waren, sie konnten schmerzhaft beißen, und er wollte vermeiden, dass sie ihm die Beine hoch bis in die Stiefel kletterten. Es war inzwischen unmöglich, lautlos zu gehen. Die abgehackten Trümmer vom Freischlagen des Wegs lagen auf dem Boden und knackten unter seinen Füßen. Es klang wie Donner in seinen Ohren.
Wieder blieb er stehen und schaute nach oben. Das Licht schwand rasch. Er konnte den Himmel nicht mehr sehen, war aber sicher, dass von Süden her Wolken anrückten. Er ließ Ben-Foran zu sich aufschließen und flüsterte: »Wenn Ihr die ersten Regentropfen spürt, dann rennt. Rennt, so schnell Ihr könnt und so lange Ihr könnt. Bleibt nicht stehen, bis Ihr fürchtet, Ihr könntet vor Anstrengung tot umfallen.«
»Wohin gehen wir?«
»Zum Basislager, dann nach Osten zum Fluss, zu irgendeinem Fluss. Wir müssen sie abschütteln und unsere Fährte verwischen, sonst sind wir vor Einbruch der Dunkelheit tot.«
Donner grollte in der Ferne, die Luftfeuchtigkeit nahm zu. Yron war unter der Kleidung klatschnass. Der Regen würde eine Erfrischung bringen. Sehr plötzlich und heftig setzte er ein, prasselte auf das Blätterdach und brach bis unten durch. Ein Tropfen landete vor ihnen auf dem Boden, sofort gefolgt von tausend weiteren. Er rannte los.
Er rannte schneller, als er jemals gerannt war. Ben blieb dicht hinter ihm. Die Angst mobilisierte seine Glieder. Er versuchte zu lauschen, ob irgendwo Lärm entstand, doch er hörte nichts außer dem Patschen seiner Füße auf dem Boden, dem trommelnden Regen über ihnen und seinem lauten, schnellen Keuchen. Es war berauschend und beflügelnd. Vor ihm war der Weg kaum überwachsen, und er streifte Lianen, Ranken und Spinnweben, während er rannte. Die kleinen Tiere ringsum gingen in Deckung, die größeren ignorierten den Wolkenbruch und ließen ihn stoisch über sich ergehen.
Faultiere, Affen, Warane, Tapire. Alle warteten, dass der Regen aufhörte, und blieben hocken, wo sie gerade
waren, während er und Ben vorbeirannten, ohne auf Wurzeln und niedrige Äste, auf zuckende Schlangen und angriffslustige Spinnen zu achten. Denn das, was sie verfolgte, war unendlich gefährlicher. Die Distanz allein konnte sie nicht retten. Die Distanz und dazu ein Hochwasser führender Fluss würden vielleicht gerade eben ausreichen.
Yron mobilisierte seine letzten Kräfte, atmete trotz seiner protestierenden Lungen tief ein und rannte weiter.
Rebraal war nicht sicher, ob er wachte oder schlief. Er wusste, dass er sich in der Horizontalen befand, hatte aber keine Vorstellung, ob er schwebte oder lag. Er rang mit seinem Verstand und versuchte, sein Denken wieder in Gang zu bringen, doch er sah nur zusammenhanglose Szenen. Krallenjäger, die ihn trugen. Mercuun, der aufschrie. Regen, der in sein Gesicht spritzte. Leute, die sich um ihn drängten, ihn anschauten und die Stirn runzelten.
Ich bin in einem Haus, dachte er. Aber vielleicht bildete er es sich auch nur ein, weil er nichts sehen konnte. Ihm war heiß. Sehr heiß. Er roch Menispere, Casimir und Kermesbeere in der stillen Luft. Er hatte auch die Berührung eines Spruchs gespürt, aber das hatte er vielleicht nur geträumt. Es war so schwer zu unterscheiden.
Ein Lichtbalken stach durch die Dunkelheit und zeigte ihm, dass er wenigstens nicht erblindet war. Ein verschwommenes Gesicht tauchte über ihm auf und beugte sich über ihn. Es war unscharf, er konnte die Frau nicht erkennen, sah aber das Lächeln, das die Sorge nicht ganz überspielen konnte. Sie sprach einige Worte, die er nicht hörte. Nur ein Murmeln vernahm er, als wäre er unter Wasser. Er wollte den Kopf bewegen, doch sein Hals war
ruhiggestellt, und der Schmerz fuhr seinen Rücken hinunter und in beide Schultern.
Sie legte ihm beide Hände auf die Brust und schüttelte den Kopf. Sie ist schon recht alt, dachte er. Er wollte sprechen. Er wusste, dass sein Mund offen war und sich bewegte, doch was herauskam, war unverständlich. Vielleicht sprachen sie beide unter Wasser. Der Gedanke belustigte ihn.
Etwas Kühles auf seiner Stirn. Feucht. Er öffnete die Augen, die er nicht bewusst geschlossen hatte, und sah, dass die Frau ihn mit einem Tuch abtupfte. Es fühlte sich gut an, doch bald schon brannte es wieder. Er wollte sie berühren, doch seine Arme waren bleischwer. Er wollte ihr zeigen, wie dankbar er war, doch er war in seinem Körper eingesperrt.
Eine zweite Gestalt gesellte sich zu der ersten. Ebenfalls eine Frau, aber jünger. Sie legte ihm die
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