Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Legenden des Raben 01 - Schicksalswege

Die Legenden des Raben 01 - Schicksalswege

Titel: Die Legenden des Raben 01 - Schicksalswege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Barclay
Vom Netzwerk:
in der ersten Nacht kaum ein Auge zu, und die zweite war nicht viel besser. Sie verbrachte die Tage damit, ins Wasser des Ix zu starren, während der Führer mit ihnen den Hauptstrom verließ und unzählige Windungen, Nebenflüsse und Zuflüsse entlangfuhr. Am Ende des zweiten Tages verlor sie endgültig die Übersicht und konnte sich nur noch grob am Sonnenstand orientieren.
    Es musste sich um eine komplizierte Art von Folter handeln, deren Zweck sie allerdings nicht ergründen konnte. Das Land war die Hölle auf Erden. Der Himmel bombardierte sie mit Regentropfen, die selbst durch die Kapuze ihres Mantels noch stachen, und überall lauerten große und kleine Tiere darauf, sie zu töten, falls sie eine falsche Bewegung machte. Sogar die bunten Frösche konnten, wie Ren ihr fröhlich erklärt hatte, unversehens ihrem Leben ein Ende setzen.
    Wann immer sie an Land gingen, sei es, um nur eine
Pause einzulegen oder um die gefürchtete zweite Nacht zu verbringen, hatte Erienne Angst, sobald sie auch nur einen Fuß auf den Boden setzte, einen Arm ausstreckte, um sich festzuhalten, oder sich auf einen Baumstamm setzte, um am Feuer etwas zu essen. Selbst wenn sie gewollt hätte, sie wäre nicht in der Lage gewesen, ein Gespräch zu führen. Ihre Konzentration wurde durch jedes Rascheln und jedes Knacken im Unterholz und jeden Ruf eines Tiers gestört. Als Magierin war sie momentan nicht zu gebrauchen, und Denser und Ilkar wurden allmählich ärgerlich, weil sie die Sprüche zum Reinigen und die sanften Heilsprüche praktisch allein erledigen mussten.
    Sie versuchte sich einzureden, dass nicht überall Gefahren lauern konnten, und dass sie einfach nur überempfindlich auf die fremdartige Situation reagierte. Sie beobachtete die anderen: Ren und Ilkar, die sich hier anscheinend sehr wohl fühlten; Kayloor, der den Wald achtete und hier zu Hause war; Hirad und der Unbekannte, die das Unvermeidliche mit gewohnter stoischer Gleichmut hinnahmen, und Thraun, der den Wald liebte und dessen Jagdinstinkte schärfer waren denn je. Zwischen den Bäumen war er in seinem Element.
    Sie konnte sich an Denser und Darrick halten, von denen sie, ohne fragen zu müssen, wusste, dass sie sich hier ebenso fremd fühlten wie sie selbst. Die einzige andere Möglichkeit war, sich in sich selbst zurückzuziehen, was sogar noch stärker schmerzte, weil sie dabei ständig an Lyanna denken musste. Sie saß nicht mehr täglich am Grab ihrer Tochter, doch die Unterbrechung des unmittelbaren Kontakts konnte die Erinnerungen nicht vertreiben. Ihre Verzweiflung war so groß wie eh und je, und die seltenen Augenblicke, in denen sie freudige Erinnerungen
hatte, waren wie Oasen in der Wüste. Doch sie konnte nicht weinen. Nicht hier. Dieser Ort verstand ihre Schmerzen nicht, und ihre Tränen und ihr Zorn wären verschwendet.
    Um sich während der Bootsfahrt abzulenken, versuchte sie sich vorzustellen, was unter ihnen lag. Ilkar und Ren hatten sich mit garstigen Schilderungen gegenseitig überboten, und sie hatte alles geglaubt, wodurch ihre Ängste weiter genährt wurden. Die Fleisch fressenden Fische, die Blut aus zehn Meilen Entfernung wittern konnten. Die dreißig Fuß langen Krokodile mit Kiefern, die stark genug waren, um einen Plattenpanzer zu knacken. Die unsichtbaren Geschöpfe, die sich ins Fleisch eingruben und Eier legten, damit die Maden sich am Blut der Opfer fett fressen konnten.
    Sie stellte sich den Krieg unter der undurchdringlichen Oberfläche vor. Das Blinken der Schuppen im Tanz des Lebens. Und als sie einmal eins der gepanzerten Biester aus dem Fluss hervorschnellen sah, um sich einen Tapir zu schnappen, der Wasser trank, beflügelte auch dies ihre Phantasien, bis sie sich vorstellte, ihre schlimmsten Albträume könnten jeden Augenblick wahr werden: Es könne jederzeit ein Kopf mit riesigen Reißzähnen durch den Rumpf des Bootes brechen und sie alle hinabziehen und töten.
    Doch am Nachmittag des dritten Tages war ihre Reise vorbei, und sie landeten an einem flachen, von Palmen und nickenden Gräsern gesäumten Strand, auf dem drei Dutzend oder mehr Fischerboote und offene Kanus lagen.
    »Hier bin ich zu Hause«, sagte Ilkar. Er sprang an Land und starrte den Strand an.
    »Das wird aber auch Zeit«, sagte Hirad. Er folgte ihm
und stellte sich, die Hände in die Hüften gestemmt, neben ihn.
    Erienne war vor allem erleichtert. Sie wollte endlich wieder unter einem Dach und auf einer festeren Unterlage als in einer Hängematte schlafen. Es

Weitere Kostenlose Bücher