Die Legenden des Raben 03 - Schattenherz
Wesmen endlich bekamen, was ihnen von Rechts wegen zustand – die Herrschaft über ganz Balaia.
Lord Tessaya atmete tief durch. Er musste mit seinen engsten Beratern und Schamanen sprechen. Nun galt es, besonders vorsichtig vorzugehen. Er bückte sich und pflückte zwischen seinen Füßen eine Frühlingsblume, die er seiner Frau mitbringen wollte.
Der Rauch hatte sich vom Schlachtfeld verzogen, das Feuer der Sprüche und Pfeile hatte aufgehört. Die Hilferufe verhallten allmählich vor den schroffen Mauern von Xetesk, bis zwischen den feindlichen Reihen nur noch die Schmähungen der Sieger und die Schreie der Aasvögel zu hören waren.
Dila’heths Kopf pochte von der Schnittwunde, die sie sich zugezogen hatte. Neben dem sterbenden Elf, dem sie zu Hilfe gekommen war, richtete sie sich auf und blickte über das Schlachtfeld. Überall lagen Tote. Gebackener Schlamm und flache Krater verrieten ihr, wo Feuerkugeln und Höllenfeuer eingeschlagen waren. Verkohlte Tuchfetzen flatterten im leichten Wind. Hinter den Toten hatten sich die Xeteskianer zurückgezogen und nur ein paar Wachen zurückgelassen, während die anderen in Sichtweite des Schlachtfeldes ihren Sieg feierten.
Jemand kam, sie drehte sich um.
»Warum greifen sie nicht an?«, fragte sie.
»Das ist nicht nötig«, erklärte Rebraal. »Sie müssen nur dafür sorgen, dass wir den Mauern nicht zu nahe kommen und beschäftigt sind, während sie die Forschung an den Texten vollenden, die sie uns gestohlen haben.«
Der Anführer der Al-Arynaar deutete auf eine Gruppe Protektoren und Magier, die sich zum Tor zurückzogen.
»Die dort werden nicht ruhen, das kann ich dir garantieren.«
»Was haben sie jetzt vor?«
»Nun, die Boten berichten, Xetesk sei im Süden auf Schwierigkeiten gestoßen, also gehen die Kämpfer vielleicht dorthin.« Rebraal zuckte mit den Achseln.
»Aber du glaubst es nicht.«
»Nein. Wenn die Rabenkrieger recht haben, dann werden sie versuchen, so bald wie möglich in Richtung Norden vorzustoßen.«
»Nach Norden?«
»Nach Julatsa.«
»Meinst du wirklich?«
Rebraal nickte. »Warum nicht? Sie wollen die Vorherrschaft erringen, und Julatsa ist der schwächste Gegner …«
»Aber …«
»Ich weiß schon, Dila«, sagte er und berührte sie kurz am Arm, um sie zu beruhigen. »Erkläre mir, wie es sich angefühlt hat und was da draußen passiert ist.«
»Wie könntest du das verstehen?« Sie hatte keine Lust, sich wieder mit der Leere zu konfrontieren, die sie gespürt hatte. »Ich weiß nicht, es war, als hätte die Magie … als hätte sie einfach versagt. Einen Moment lang war sie nicht mehr vorhanden. Ich habe mich gefühlt, wie du dich jeden Tag fühlst, und du weißt nicht, wie schrecklich das für einen Magier ist.«
»Ilkar versuchte es mir zu erklären.« Rebraal lächelte leicht. Der Tod seines Bruders hatte ihn stärker getroffen, als er selbst vermutet hatte. Dila wusste nicht viel über ihre Beziehung. »Aber was steckt nun dahinter?«
Dila schüttelte den Kopf. »Das wissen wir nicht. Wir
müssen jemanden nach Julatsa schicken und es herausfinden. Was es auch war, ich bin sicher, dass sie dort mehr wissen als wir.«
»Ilkar kam nach Calaius, um Magier anzuwerben, die ihm bei der Bergung des Herzens helfen sollten. Vielleicht war ihm längst klar, dass etwas im Argen lag. Ist das nicht möglich?«
Dila schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Ich nehme an, er wollte wie wir alle dafür sorgen, dass Julatsa seine vorherige Stellung wieder einnehmen kann. Falls du in Bezug auf Xetesks Absichten recht hast, ist dies wichtiger denn je. Was glaubst du, wie viele Magier er gewinnen wollte?«
»Er hat sich nicht genau geäußert«, erwiderte Rebraal. »Einige hundert, denke ich.«
Dilas Herz sank. »Rebraal, wir haben hier vor Xetesk kaum mehr als zweihundert.«
»Ich weiß«, sagte er.
»Wann treffen unsere Verstärkungen ein?«
»Schwer zu sagen. Als wir mit dem Raben von Ysundeneth hierher aufbrachen, war noch nicht viel zu sehen. Die Botschaft wird gerade erst verbreitet, und der Elfenfluch hat viele dahingerafft.«
»Was sollen wir dann tun?«, fragte Dila verzweifelt. Sie hatte das Gefühl, trotz des offenen Geländes, auf dem sie gerade stand, in einer schrecklichen Falle zu stecken.
»Wie viele haben wir heute verloren?«, wollte Rebraal wissen.
»Zu viele.«
»Das ist keine Antwort.«
Dila nickte. »Aber es sind trotzdem zu viele. Hier liegen einhundertvierundsiebzig Tote. Da drüben sind
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