Die Legenden des Raben 06 - Heldensturz
doch nach, Chandyr.«
»Das habe ich getan«, gab der Kommandant hitzig zurück. »Wir haben eine Chance, ein paar unserer Leute zu retten.«
Dystran scheuchte sie wieder nach drinnen. Auch er hätte am liebsten getan, was Chandyr verlangte, doch er wusste, dass es eine Dummheit wäre. »Es spielt keine Rolle, ob es eine Falle ist oder nicht. Zuerst einmal glaube ich nicht, dass Ihr im Umkreis von einer Meile um das Kolleg auch nur einen Xeteskianer finden könntet. Glaubt mir, unsere Leute sind genau dort, wo die Dämonen in der Luft schweben. Und selbst wenn Ihr jemanden hereinholen könntet, wäre es eher nachteilig. Wir können kaum uns selbst ernähren und mit Wasser versorgen, und die Situation würde sich nur verschlimmern, wenn noch mehr hungrige Mäuler hinzukommen.«
Chandyr beruhigte sich ein wenig und neigte den Kopf. »Ich weiß, dass Ihr recht habt, aber es ist …« Er machte eine hilflose Geste zur Stadt hin.
»Ich verstehe«, sagte Dystran. »Niemand ist in diesem Raum, der nicht den Wunsch hätte, jeden Mann, jede Frau und jedes Kind in der Stadt zu retten. Wir dürfen sie jedoch erst befreien, wenn wir ihnen wirklich zu helfen vermögen. Der Zeitpunkt ist jetzt noch nicht gekommen, aber irgendwann wird es so weit sein. In einer Hinsicht habt ihr allerdings recht – wir müssen die Gunst der Stunde nutzen. Also steht nicht müßig hier herum. Sucht die schnellsten Läufer aus, die Ihr habt, und lasst uns noch einige Texte aus der Bibliothek holen, falls die Dämonen nicht alles niedergebrannt haben. Noch etwas, Chandyr. Wir trauen diesen Ungeheuern nicht. Also wählt Leute aus, die Sprüche wirken können.«
Der Rabe hatte die unerwartete Ruhepause ausgekostet. Die Rabenkrieger, dazu Kas, Ark und Eilaan, hatten drei Tage und vier Nächte am idyllischen Ufer des Triverne-Sees gelagert, ohne irgendeine Spur von den Dämonen zu entdecken. Genau genommen hatten sie außer den Tieren, die im Wald lebten, überhaupt kein Lebewesen gesehen. Sie hatten geübt und trainiert, geredet und sich ausgeruht, aber irgendwie war ihnen die Ruhe trügerisch vorgekommen. Sie konnten nicht vergessen, was ihnen noch bevorstand.
Hätten sie sich in einem Wirbelsturm befunden, dann wäre dies sein Auge gewesen.
Da sie den Zeitrahmen kannten, den Rebraal und Auum für die Evakuierung Julatsas angesetzt hatten, nahmen sie an einem kalten, klaren Morgen ein schweigsames Frühstück ein und kehrten zum Boot zurück, um wieder zum anderen Ufer des Sees überzusetzen.
Niemand sprach, als sie über das stille Wasser fuhren. Hirad hätte gern versucht, das Eis zu brechen, doch
ein Blick des Unbekannten hatte ihn eines Besseren belehrt.
Er schüttelte den Kopf. Er fand es absurd, dass die Insassen dieses kleinen Bootes über die Zukunft von Balaia und mindestens drei Dimensionen entscheiden sollten. Ihm kam es eher vor wie eine Beerdigungsprozession. Vielleicht entwickelte er eine prophetische Begabung.
Fürs Erste hielt er jedenfalls den Mund und konzentrierte sich aufs Rudern, aber als sie am anderen Ufer angekommen waren, das Boot versteckten und in Deckung gingen, konnte er sich nicht länger zurückhalten.
»Das Brüten bekommt dir nicht, Unbekannter. Denkst du an deine Frau und dein Kind?«
»Nicht jetzt, Hirad.« Der Unbekannte schüttelte den Kopf.
»Ach? Dann will ich nicht länger herumraten und mich zum Narren machen. Sag’s mir einfach.«
Der Unbekannte lächelte einen Moment und wandte sich an Hirad, um dessen Stimmung einzuschätzen. Hirad schnitt eine Grimasse und verdrehte die Augen.
»Es ist ernst. Stell dir nur vor, was wir versuchen wollen. Denk an die Bürde, die wir tragen. Das Leben der Menschen, die auf uns angewiesen sind. Es ist kein Spiel, es ist so ernst wie noch nie zuvor. Wir müssen auf uns aufpassen, Hirad«, sagte er. Der Barbar antwortete nicht. »Wir müssen genau überlegen, was wir tun, wie viel wir uns zumuten und wie gut wir uns auf die anderen in der Nähe verlassen können. Wir dürfen es nicht übertreiben.«
»Genau.«
»Hirad, wir sind nicht gut in Form. Wie könnten wir es auch sein? Ich brauchte viel Zeit, um wieder so weit zu kommen, wie ich einmal war, und das bedeutet, dass wir
uns nicht mehr so gut aufeinander verlassen können wie früher.«
»Ich kann dir nicht folgen.«
»Deutlicher kann ich es nicht sagen, Coldheart. Was wir vor fünf Jahren waren, ist eine bloße Erinnerung. Was wir vor zwei Jahren waren, ist vermutlich unerreichbar. Wenn wir im Kampf
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