Die Legenden des Raben 06 - Heldensturz
haben.«
Blackthorne wollte zum Ausgang des Festsaales gehen, dann hielt er inne. Vor zehn Tagen hatte er hier den Raben bewirtet und große Hoffnungen gehegt. Jetzt war der Raum ein Schlachtfeld, und fast alle Hoffnung war erloschen.
Auf dem großen, halb zusammengebrochenen Tisch lagen tote Dämonen und Menschen, daneben Geschirr und Leuchter auf dem Boden. Das war noch lange nicht alles. Im ganzen siebzig Schritt langen Saal bewegten sich nur wenige, die noch laufen konnten, zwischen den vielen, die hilflos am Boden lagen, und versuchten, den Verletzten nach Kräften zu helfen.
Eine rasche Bestandsaufnahme ergab, dass mindestens vierzig von Blackthornes Männern tot waren, im Sterben lagen oder kampfunfähig waren. Wenn es überall im Kaltraum so aussah wie hier …
»Was haben wir noch?«
Luke verzog entmutigt das blutige Gesicht.
»Die Burg, die Stallungen, den hinteren Innenhof und die Schuppen mit der Ausrüstung. Das wäre so ungefähr alles.«
»Bei den guten Göttern.« Blackthorne schüttelte den Kopf. »Wie viele Kämpfer haben wir verloren?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Luke. »Wir zählen sie später, aber es sieht schlimm aus. Wir haben noch einen Kern von Magiern, die unsere Kalträume aufrechterhalten, aber es reicht nicht mehr, um einen weiteren Angriff dieser Größenordnung abzuwehren.«
»Wir müssen uns etwas einfallen lassen.«
Blackthorne stützte Luke und ging zur Haupttür des Saales. Unterwegs begegnete er dem Blick eines Soldaten, der gerade von einem gefallenen Kameraden aufschaute.
»Er hat sich vor mich geworfen«, erklärte der Soldat. »Der Dämon hat ihm das Herz herausgerissen. Es hätte mich treffen müssen.«
»Hat es aber nicht, Sergeant«, erwiderte Blackthorne nachsichtig. »Heute ist jeder, ob lebend oder tot, ein Held. Wären wir das nicht, dann hätten sie uns überrannt. Bedanke dich bei ihm, indem du niemals aufgibst.«
Der Sergeant nickte. Blackthorne konnte sehen, dass der Mann schauderte. Sein Blick irrte umher, als hätte er den Verstand verloren. Er war außer sich vor Furcht und schockiert nach den jüngsten Erlebnissen. Blackthorne reichte ihm eine Hand und half ihm auf. Endlich stand er wieder auf den Beinen.
»Für ihn kannst du nichts mehr tun. Die Wachen werden ihn zu den anderen legen. Könntest du mein Schwert da drüben vom Tisch holen und mir mit Luke helfen?«
Blackthorne sah sich ein letztes Mal im Festsaal um. Es war eine Leichenhalle. Es stank. Am anderen Ende bildeten sich gerade Trupps, denen die Aufgabe zufiel, die Leichen in den Hof zu schleppen, wo sie begraben werden sollten. Holz für eine Einäscherung konnten sie so
wenig entbehren wie das Wasser, um die Toten zu waschen. Erst mussten sie sich vergewissern, wie viele Vorräte sie überhaupt noch besaßen.
Ihm wurde bewusst, dass sein Körper vor Dreck starrte – menschlicher Schmutz, aber auch das Blut von Dämonen. Luke stützte sich immer schwerer auf ihn.
»He, Junge, geht es dir nicht gut?«
»Ich hab mich schon besser gefühlt«, gab Luke zu.
Der Soldat kam zu ihnen geeilt.
»Stütze ihn auf der anderen Seite«, befahl Blackthorne. »Ich nehme an, die Mannschaftsquartiere sind außer Reichweite?«
»Ja, Mylord«, bestätigte Luke.
»Dann wirst du dich in meinen Gemächern ausruhen.«
»Nein, es gibt noch so viel zu tun.«
»Damit hast du recht. Ich werde mich zusammen mit dem braven Sergeant hier darum kümmern. Wenn ich die Zahlen habe, werde ich sie dir nennen. Nein, keine Widerworte, Luke. Ich brauche dich wach und gesund, und im Augenblick bist du beides nicht.«
Der dankbare Blick des Jungen brach Blackthorne fast das Herz. Der junge Mann sackte in sich zusammen.
»Verdammt«, sagte der Baron. »Komm schon, lass uns gehen.«
Zusammen mit dem Sergeant schleppte er Luke aus dem Saal. Draußen auf den Fluren sah es kaum besser aus als in dem Saal, den sie gerade verlassen hatten. Überall in den Gängen, auf den Treppen und in den Zimmern lagen Menschen, und die meisten bewegten sich nicht mehr.
Auf dem Weg zu seinen Gemächern kamen sie an der Krankenstation vorbei, wo hektisches Treiben herrschte. Sie war hoffnungslos überfüllt.
»In meine Gemächer! Gleich!« Erwartete nicht auf die Bestätigung.
Sie hievten Luke die Treppe hinauf und legten ihn etwas unsanft auf Blackthornes gusseisernes Himmelbett. Es war dunkel im Schlafgemach. Das Feuer war erloschen, keine Kerze brannte, die Fenster waren verschlossen und vernagelt. Draußen tobten die
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