Die Legenden von Attolia 1: Der Dieb (German Edition)
einschätzen, wo ihre Einschnitte in den Bergflanken zu verorten waren, weil ich mir nicht ganz sicher war, wo ich mich selbst befand – irgendwo landeinwärts von der Seperchia, das war alles, was ich mit Gewissheit sagen konnte.
Der Magus rief mich von meiner Steinschwelle weg und schritt voran, den Hügel neben dem Haus hinauf in eine enge Kluft, die in die Bergflanke eingeschnitten war. Der Pfad, der gestern nicht breiter als ein Pferd gewesen war, war heute so schmal wie ein Mensch und kaum sichtbar. Wir gingen ein altes Bachbett entlang, das wahrscheinlich einen Großteil des Jahres über ausgetrocknet war. Vom winterlichen Regen angeschwollen hatte der Bach sich seinen Weg durch Tonschiefer gegraben und, unter größeren Mühen, aber genauso unerbittlich, durch Marmor und Granit. Wo das Wasser geströmt war, hatten Oliven Wurzeln geschlagen. Die Bergwände ragten beiderseits von uns auf, manchmal als massive Steinflanken, die mehrere hundert Fuß hoch waren. Floh-Knöterich und Aurikeln wuchsen in geballten Büscheln, die oberflächliche Kratzer auf unserer Haut hinterließen, wenn wir sie streiften. Wenn der Pfad hier und da an einer kleinen Klippe endete, die in der regnerischen Jahreszeit einen Wasserfall im Bach bildete, suchte der Magus beiderseits des Bachbetts nach Stellen, auf die man treten konnte, und fand immer welche. Wir sahen uns keinen unüberwindlichen Hindernissen gegenüber, obwohl wir über umgestürzte Baumstämme kletterten und manchmal auf Fingern und Zehen bergauf krochen. Ich war froh, meine Stiefel mit den weichen Sohlen zu haben.
Wir rasteten, bevor ich erschöpft war, aber ich war froh über die Ruhe. Es war deutlich, dass der Magus vorhatte, uns das Bachbett hinaufzuführen, bis wir an irgendeiner Stelle Sounis verließen und das Bergland Eddis erreichten. Vielleicht hatten wir das schon getan. Ich zögerte zu fragen, war aber entzückt, als Ambiades es tat.
»Wo sind wir?«
»Seit dem letzten Aufstieg in Eddis.«
»Warum?«
Ich zog die Augenbrauen hoch. Also hatte der Magus seinen Lehrlingen nicht mitgeteilt, wohin wir unterwegs waren. Ich fragte mich, ob er es Pol gesagt hatte.
Der Magus wandte sich Sophos zu, um zu fragen: »Was hast du von deinem Hauslehrer über Eddis gelernt?«
Also sagte Sophos auf, was er wusste, während wir unser Mittagessen verzehrten. Eddis wurde von einer Königin und einem Rat aus elf Ministern regiert, den Ersten Minister mit eingerechnet. Es exportierte hauptsächlich Silber aus den Bergwerken und Bauholz und importierte einen Großteil seines Korns, seiner Oliven und seines Weins. Das Land war schmal und führte am Kamm der Bergkette südlich und südöstlich von Sounis entlang.
Es klang wie ein Absatz aus einem Buch, das »All unsere Nachbarländer« beschrieb, oder einem ähnlich einfältigen Werk.
Als Sophos fertig war, wandte sich der Magus seinem älteren Lehrling zu. »Sag mir, was deiner Meinung das Bedeutsamste ist, was man über Eddis wissen muss.« Und Ambiades schlug sich bewundernswert. Das ließ mich vermuten, dass er durchaus über eine gewisse Begabung für seine Ausbildung verfügte, obwohl ich das Gefühl hatte, dass er glaubte, das Lehrlingsdasein sei unter seiner Würde. Vielleicht war er neidisch, weil Sophos der Sohn eines Herzogs war und er nicht.
»Eddis kontrolliert den einzigen leicht gangbaren Pass durch die Berge zwischen Sounis und Attolia, den beiden reichsten Handelsnationen in diesem Teil der Welt. Es ist an dieser Küste das einzige Land, das noch Holzwirtschaft betreibt. All unsere Wälder sind längst abgeholzt. Viele andere Rohstoffe gibt es dort oben in den Bergen nicht, so dass Eddis einen Großteil seines Reichtums aus dem Handel anderer Völker gewinnt: Die Königin von Eddis erhebt Zölle auf die Wagentrecks, die das Gebirge durchqueren, und verkauft Bauholz für Handelsschiffe an Attolia und Sounis. Weil es vom Handel abhängig ist, war es immer neutral und hat stets versucht, den Frieden zwischen Attolia und Sounis zu erhalten. Nachdem wir die Eroberer vertrieben hatten, wären wir in Attolia eingefallen, wenn die Eddisier uns nur gelassen hätten.«
»Sehr gut«, sagte der Magus. Er wandte sich an Sophos und fragte ihn, ob er über diesen Vorfall Bescheid wüsste.
»Das war, als sie die Brücke über die Seperchia zerlegt haben …«, riet Sophos.
»Ja«, sagte der Magus. »Sie fließt durch eine Schlucht, und ohne die Schlucht zu überqueren, kann eine Armee nicht jenseits des Passes nach
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