Die Legenden von Attolia 1: Der Dieb (German Edition)
nicht, und Ihr wisst nichts über sie.«
»Sei nicht albern! Natürlich weiß ich etwas über sie. Sie ist aus einem Fenster im vierten Stock von Baron Eructhes’ Villa gefallen und gestorben, als du zehn Jahre alt warst.«
Der Wind raschelte in den Kiefernnadeln über meinem Kopf. Ich hatte vergessen, was in meiner dicken Gerichtsakte stand. Die Gerichte des Königs waren in der Lage, die gesamte Lebensgeschichte eines Taschendiebs in winziger Handschrift auf einer Sammlung gefalteter Papierblätter in der Aktenkammer des Gefängnisses nachzuvollziehen.
Der Magus sah, dass er mich tief getroffen hatte, und fuhr in einem vor Herablassung triefenden Tonfall fort: »Vielleicht irre ich mich. Vielleicht ist der Name Gen ja in der Familie üblich. Der Titel ›Dieb des Königs‹ ist in Eddis heutzutage erblich, und ich glaube, der jetzige Dieb heißt Eugenides. Vielleicht seid ihr ja verwandt, und du bist der Cousin einer bedeutenden Persönlichkeit.« Er kicherte. Ich spürte, dass mein Gesicht brannte, und wusste, dass ich bis zum Haaransatz rot geworden war.
»Eugenides« – ich stotterte fast – »war der Gott der Diebe. Wir sind alle nach ihm benannt.« Ich sprang vom Feuer auf und stapfte zurück zu meiner Decke. Die Nacht war kühl, und so hüllte ich mich in den Wollumhang und gestand mir ein, dass in diesem Schlagabtausch der Magus die Oberhand behalten hatte. Alle anderen schienen ebenfalls dieser Meinung zu sein.
Am nächsten Tag war der Magus selbstgefällig wie eine Katze. Pol bereitete das Frühstück zu, und dann packten wir und achteten darauf, keine Spur unserer Anwesenheit neben dem Pfad zurückzulassen. Sophos und Ambiades sammelten Kiefernnadeln, um den verbrannten Fleck zu bedecken, an dem sich unser Kochfeuer befunden hatte. Gegen Mittag hatten wir die andere Seite der Bergkette erreicht; nun lag der Abstieg vor uns.
»Da gehe ich nicht hinunter, bevor ich mein Mittagessen bekommen habe«, verkündete ich. »Ich will nicht mit leerem Magen sterben.« Ich war zwar flapsig, meinte es aber völlig ernst, und als der Magus mich zu zwingen versuchte, blieb ich störrisch. Er versetzte mir mit dem Siegelring eine Kopfnuss, aber ich rührte mich nicht. Ich würde mich ausruhen, bevor ich daranging, einen Tonschieferhang hinabzuklettern, auf dem ich nicht nur meinen Gleichgewichtssinn benötigen würde, sondern auch alle Kraft, die das Gefängnis des Königs meinen Beinen gelassen hatte. Ich grub die Fersen in den Boden und ging keinen Schritt weit. Wir aßen zu Mittag.
Nach dem Essen machten wir uns auf den Weg die Bergflanke hinab. Ich wollte als Letzter gehen, aber das ließ Pol nicht zu. So ging ich als Zweitletzter und musste mir nur Gedanken um die Steine machen, die Pol lostrat. Der Magus, der als Erster ging, musste nicht nur auf Pols Steine achten, sondern auch auf meine und die von Sophos und Ambiades. Ich schickte extra für ihn einige den Hang hinab, hatte aber Mitleid, als einer der Steinbrocken, die Pol lostrat, Sophos mitten am Hinterkopf traf. Keiner von uns konnte stehen bleiben, um festzustellen, ob er schwer verletzt war, bis wir das Ende des Flyschs erreicht hatten. Bis dorthin waren es etwa fünfundsiebzig Fuß, und sobald wir sicher auf massivem Fels standen, nahm Pol Sophos in Augenschein.
»Dreh dich um«, sagte er.
»Es geht mir gut«, beteuerte Sophos, aber ihm kamen immer noch die Tränen. »Es blutet nicht.« Er sah mehrfach seine Hand an, um sicherzugehen. Pol strich über die Beule, die sich an Sophos’ Hinterkopf bildete, und pflichtete ihm bei, dass er es wahrscheinlich überleben würde.
»Das hier tut mir leid«, sagte er und schien es mit seiner Entschuldigung für etwas, das er beim besten Willen nicht hätte verhindern können, sehr ernst zu meinen. »Musst du dich eine Weile ausruhen?«
»Wir könnten ein zweites Mittagessen einschieben«, schlug ich vor und fing mir einen finsteren Blick vom Magus ein.
Sophos wiederholte, es ginge ihm gut, und so brachen wir wieder auf. Hier gab es kein Bachbett, dem wir folgen konnten, zumindest nicht gleich. Wir wanderten auf einem Ziegensteig zwischen Felsbrocken die Bergflanke entlang. Ich fühlte mich vollkommen ausgeliefert und machte mir Sorgen, wer uns von oben beobachten mochte. Das Letzte, was ich wollte, war, dabei ertappt zu werden, wie ich mit dem königlichen Magus von Sounis durch Eddis wanderte, und wir hätten gar nicht sichtbarer sein können: fünf Menschen, die durch Pflanzenwuchs stapften,
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