Die Legenden von Attolia 1: Der Dieb (German Edition)
still, und niemand sah in meine Richtung, aber es war undenkbar, dass sie sich meiner Ankunft nicht bewusst waren. Der Obsidian, der zu Boden gestürzt war, hatte genug Lärm verursacht, um Tote aufzuwecken, aber niemand rührte sich. Ich war gut zu sehen, aber niemand schaute mich an. Am Ende ging mir auf, dass die einzige Bewegung im Raum von den Schatten herrührte, die von dem Licht in meiner zitternden Hand geworfen wurden, und ich begann wieder zu atmen. Es waren Statuen.
Als ich zwischen ihnen hindurchging, konnte ich sehen, dass ihre Perfektion sie unwirklich machte. Ihre Haut mochte heller oder dunkler sein, war aber immer makellos, ihre Gesichter symmetrisch, ihre Augen klar. Sie hatten keine Narben, keine verkrüppelten Gliedmaßen; niemand schielte. Ich hätte gern diese makellose Haut berührt, wagte es aber nicht. So beschränkte ich mich darauf, über den Stoff eines Gewands zu streichen. Es war dunkelblau; ein Muster, das fließendem Wasser glich, war darin eingewoben. Der Mann, der es trug, war hochgewachsen. Natürlich größer als ich, aber auch größer als der Magus.
Zurückversetzt vom Mittelgang, nahe der Rückseite des Raums, entdeckte ich die Frau im weißen Peplos. Jetzt erkannte ich sie, auch ohne ihren Federkiel und ihre Schriftrolle, und lächelte angesichts dessen. Sie war Moira, die die Schicksale der Menschen aufzeichnete. Ich fragte mich nicht, wie sie in meine Träume geraten war. Ich hatte ihr Ebenbild in dieser Welt gefunden, und irgendwie hatte ich den Eindruck, dass alles Rätselhafte damit erklärt wäre.
Ich wandte mich von ihr ab und dem Altar zu – und sah, dass ich mich geirrt hatte. Es gab keinen Altar. Hier stand ein Thron, und auf ihm saß die Statue der Großen Göttin Hephestia. Sie trug ein aus dickem Samt geschneidertes Kleid, dessen Rottöne im Innern der Falten am dunkelsten und auf den höher liegenden Stellen heller waren. Ihr Haar wurde von einem mit roten Rubinen besetzten Band aus Goldgeflecht aus der Stirn gehalten. Auf ihren Knien ruhte ein kleines Tablett, auf dessen spiegelnder Oberfläche ein einzelner Stein lag. Ich trat vor, bis ich mich recken konnte, um den Stein zu ergreifen. Dann hielt ich mit ausgestreckter Hand inne und stand stocksteif da, während ich beobachtete, wie sich das Lichtmuster auf dem Samtgewand mit der Bewegung eines Atemzugs veränderte. Mein Herz fühlte sich in der Brust wie versteinert an.
Das hier war keine Statue, die sorgsam als Nachbildung Hephestias inmitten einer Ansammlung von Götterfiguren geschaffen worden war. Dies war die Große Göttin, und sie war von ihrem Hofstaat umgeben. Meine ausgestreckte Hand begann zu zittern. Ich schloss die Augen, als ich Stoff hinter mir rascheln hörte, und fragte mich, ob das wohl das mitternachtsblaue Gewand mit dem Wassermuster war und Oceanus nachsah, ob ich Schmutz darauf hinterlassen hatte. Ich öffnete ein Auge und schaute zu der Großen Göttin auf. Sie blickte an mir vorbei, gleichgültig, distanziert, sich meiner Gegenwart durchaus bewusst, aber unberührt davon.
Hinter mir ertönte Stimmengemurmel, aber ich konnte keine einzelnen Wörter verstehen. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie jemand vortrat. Ich hatte ihn vorher noch nicht gesehen, obwohl ich nach ihm hätte Ausschau halten sollen. Seine Haut war nicht schwarz wie die der Nimbier, sondern von einem dunklen Braunrot, wie gebrannter Ton – oder wie die Haut des uralten Volks, das Bildnisse an den Wänden der Ruinen auf Inseln im Mittleren Meer hinterlassen hatte. Sein Haar war dunkel, wie das seiner Halbschwester, aber ihres spiegelte das Licht golden und kastanienbraun wider; seines war kohlschwarz. Sein Gesicht war viel schmaler, seine Nase schärfer. Auf einer Wange hatte er eine leichte Brandnarbe in Form einer abgerundeten Feder. Er war kleiner als die übrigen Götter und in eine schlichte, graue Tunika gekleidet.
Am Ende sagte Eugenides, der Gott, der einst ein Sterblicher gewesen war: »Du hast die Götter noch nicht beleidigt, außer vielleicht Aracthus, der damit betraut war, keinen Dieb hier eindringen zu lassen. Nimm den Stein.«
Ich rührte mich nicht.
Der Schutzgott der Diebe kam näher. Er stellte sich rechts neben seine Schwester und legte die Hand auf ihre.
»Nimm ihn«, sagte er. Er betonte die Wörter seltsam, aber seine Aussprache unterschied sich gar nicht mal so sehr von meiner. Der Magus war nicht hier, um mir zu erläutern, wie sie sich im Vergleich zur Sprache der zivilisierten
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