Die Legenden von Attolia 4: Die Verschwörer (German Edition)
zufällig vorbeikommenden Mördern zu retten, und das merkten sie mir an. Ich fragte mich, für wen ich tatsächlich gekämpft hätte, da die Leute, die ich am meisten geliebt hatte, schon tot waren.
»Ich würde Berrone retten«, murmelte ich in dem Gedanken, dass sie freundlich zu mir gewesen war und dass ich ihr etwas schuldete, obwohl sie zu dumm war, sich dessen bewusst zu sein.
»Oh«, sagte Luca, der meine Worte anders verstand, als ich sie gemeint hatte. »Berrone würde ich auch retten«, und sie lachten alle. Das Gespräch schlug eine andere Richtung ein, und ich verstummte.
Ich dachte an die Diener in der Villa auf Letnos. Freie wie Sklaven, sie hatten sich gegen mich gewandt. Sie hätten sich entschließen können zu kämpfen und hatten es nicht getan, wahrscheinlich, weil sie geglaubt hatten, dass die Schlacht ohnehin verloren war, und das konnte ich ihnen nicht zum Vorwurf machen. Sie hatten mich bei planlosen Fechtübungen oder beim Lesen von Gedichten gesehen. Sie hatten mich wimmern hören, nachdem mein Hauslehrer mir Rutenstreiche auf die Handflächen versetzt hatte. Es war kein Wunder, dass sie es für selbstmörderisch gehalten hatten, mir zu folgen. Also hatten sie ihre Wahl getroffen und waren dennoch gestorben.
Ich weiß nicht, ob wir den Kampf in der Villa gewonnen hätten, wenn sie hinter mir gestanden hätten. Ich weiß aber, dass es meine Schuld war, dass sie es nicht einmal versuchten. Mein ganzes Leben lang war ich nicht besser als Hyazinth gewesen, der sich entschlossen hatte, mich zu verraten, und dann über die Folgen die Hände gerungen hatte. Mein Leben lang hatte es mich bekümmert, der Prinz von Sounis zu sein. »Warum ich? Warum ich?«, hatte ich gejammert und nach einem Weg gesucht, mich meiner Verantwortung zu entziehen.
Natürlich hatten die Diener beschlossen, mir nicht zu folgen; ich hatte sie bereits enttäuscht, indem ich mich geweigert hatte, ein Mann zu sein, an den sie glauben konnten. In der Hinsicht war ich genauso verantwortlich für ihren Tod wie für den meiner Mutter und meiner Schwestern. Es tat mir leid, dass ich nichts Besseres für sie erreicht hatte; zugleich war ich froh, dass ich an niemandem mehr versagen konnte.
Kapitel 6
In einem meiner Träume erzählte meine Lehrerin mir eine Geschichte, und ich möchte sie dir gern erzählen. Ich weiß nicht, warum ich davon träumte, aber sie ist mir in den letzten Tagen oft in den Sinn gekommen. Es ist die Geschichte von Morpos’ Entscheidung.
Es war einmal ein junger Mann namens Morpos, der in einem kleinen Dorf am Rande eines großen Waldes lebte und bei all seinen Nachbarn als guter Flötenspieler bekannt war. Im nahen Wald trieben Banditen ihr Unwesen, und mitten darin lag ein Tempel, der Atrape geweiht war, der Göttin der weisen Entscheidungen. Der Tempel wurde von einem Wolf bewacht, und es ging das Gerücht, das Opisthodom sei mit Schätzen angefüllt. Einen dieser Schätze – einen Beutel voll Gold, eine Rubinhalskette, einen verzauberten Schild oder ein Schwert – schenkte die Göttin angeblich jedem, der an dem Wolf vor der Tür vorbeikam.
Wenige Menschen machten von dem Angebot Gebrauch. Da war ja nicht nur der Wolf, sondern auch die Bedrohung durch die Banditen, die jeden fingen, der einen Besuch im Tempel überlebte, und ihm alles von Wert abnahmen. Und denen, die keine kostbare Gabe bei sich trugen, wurde das Leben genommen. Einst überlebte ein kluger Bittsteller und bat die Göttin um die Gabe der Weissagung. Er erhielt sie auch, nur um gleich darauf gefangen genommen zu werden. Er rief: »Ich werde sterben, ich werde sterben«, und das tat er.
Ein anderer Mann bat um ein magisches Schwert. Er verließ den Tempel und wurde für eine Weile König der Banditen, bis er im Schlaf erstochen wurde. Das Schwert verrostete bald darauf.
Eines Nachts, als er schlief, träumte der junge Mann in unserer Geschichte von dem Wolf. In seinem Traum enthüllte ihm der Wolf, dass er einst ein König gewesen war, der die Götter beleidigt hatte und in ein Tier verwandelt worden war. Er war als Wächter des Tempels eingesetzt worden, doch es war ihm verboten, jemanden anzugreifen, der in friedlicher Absicht kam. Um in den Tempel vorzudringen, musste man sich also nur vor dem Wolf verneigen und ihm die Kehle darbieten.
Der junge Mann verspürte nicht das Bedürfnis, zum Tempel zu gehen, und schenkte seinem Traum wenig Beachtung. Sein einziger Wunsch war, weit von dem Wald wegzureisen, die Welt zu sehen und
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