Die Leibwächterin (German Edition)
Ruhe anzusehen, und am nächsten Tag würde ich anderes im Kopf haben. Ich hatte auf dem Umschlag nach Fingerabdrücken oder Haaren gesucht, doch das einzige Aussagekräftige war der Poststempel. Die Adresse war mit der Maschine geschrieben und der Umschlag mit einem Freistempel frankiert, der nichts über eventuelle Vorlieben des Absenders verriet.
Am Mittwochmorgen wurde ich schon um sechs Uhr wach. Es war dunkel, die Sterne standen noch am Himmel, aber auf der E 51 rollte bereits der Verkehr. Ich joggte mir die Erregung aus dem Leib, doch sie kehrte zurück und wäre im Lauf des Tages ins Unermessliche gewachsen, wenn der Vormittag nicht so unglaublich hektisch gewesen wäre. Helena musste am Samstag vor der Wahl in Tammisaari eine Rede auf Schwedisch halten, und ich hatte versprochen, sie durchzulesen, weil Helena in der Grammatik nicht ganz sattelfest war. Ich konnte zwar auch nicht perfekt Schwedisch, aber vier Augen sahen mehr als zwei. Die Tür zwischen unseren Büros stand offen, Helena hatte einen Termin mit einer russischen Journalistin, deren Internetzeitung ständig Server und URL wechselte, weil sie Kritik am Kreml übte und deshalb von der Zensur bedroht war. Helena und die Journalistin, eine zerbrechlich wirkende Frau um die sechzig, sprachen Russisch miteinander, doch ich verstand einzelne Sätze. Das Gespräch drehte sich teils um die Erdgas-Pipeline, die im Finnischen Meerbusen verlegt werden sollte, teils um die Einschränkung der Redefreiheit in Russland. Und an einer Stelle war ich ganz sicher, dass Helena und Marina Mihailowa, die Journalistin, Kotka erwähnten. War die Mihailowa diejenige, die Helena die Karte geschickt hatte?
Wieder spitzte ich die Ohren, denn die russische Journalistin nannte den Namen Nuutinen, mit einem weichen j zwischen dem N und dem u, wie es für Russen typisch war.
«Potschemu?» , fragte Helena. «Warum?»
«Sie wusste, was in dem Gebiet geplant ist. Es ging nicht mehr um …» Den Rest des Satzes verstand ich nicht, doch dann fiel der Name Walentin Feodorowitsch. Männer dieses Namens gab es in Russland zu Hunderttausenden, andererseits wusste ich, dass auch Paskewitschs Patronym Feodorowitsch lautete.
Helena fragte die Journalistin, ob sie sicher sei, und diese antwortete, sie sei absolut sicher. Dann klingelte Helenas Handy. Sie hatte es auf meinem Schreibtisch deponiert und gesagt, ich solle ihr Gespräch mit Marina Mihailowa nur unterbrechen, wenn es um etwas wirklich Wichtiges ging. Am Telefon war ein Reporter, der von Helena eine Prognose des Wahlergebnisses wollte. Ich sagte ihm, die Abgeordnete sei momentan nicht zu sprechen, hörte allerdings im nächsten Moment, dass sie sich von ihrer Besucherin verabschiedete.
«Auf Wiedersehen, Marina Andrejewna.» Helena küsste die Frau auf die Wange. Marina Andrejewna Mihailowa maß höchstens eins fünfzig. Neben ihr wirkte selbst die zierliche Helena wie eine Kugelstoßerin, und ich war geradezu eine Riesin.
«Auf Wiedersehen, Helena, und Gottes Segen!»
«Gottes Segen», wünschte auch Helena, obwohl sie meines Wissens Agnostikerin war. «Hilja begleitet dich nach unten. Dein Zug fährt bald.»
Marina Mihailowa fuhr in ihre Heimatstadt zurück, und ich hatte plötzlich Sehnsucht nach den Kirchen von Moskau mit ihren strahlenden Kuppeln. In ihrem dicken schwarzen Wollrock und den festen Schuhen unterschied die Journalistin sich kaum von den Babuschkas, die an den Metrostationen ihre Waren feilboten. Und doch war sie eine gefährliche Dissidentin. Trotz ihrer Zerbrechlichkeit war ihr Händedruck zum Abschied resolut und fest. Langsam, als bereite ihr jeder Schritt Schmerzen, ging sie über den Platz vor dem Parlamentsanbau in Richtung Bahnhof. Soweit ich es sehen konnte, wurde sie nicht verfolgt. Ich sah ihr nach, bis sie zwischen dem Kiasma-Museum und dem Zeitungspalast verschwand.
«Hoffentlich sehe ich Marina Andrejewna noch einmal wieder», sagte Helena, als ich zurückkam.
«Wieso denn nicht?»
«Sie hat einen Tumor in der Gebärmutter und die Spezialtruppen des russischen Geheimdienstes im Nacken. Das eine so schlimm wie das andere. Aber da Marina weiß, dass ihr nicht viel Zeit bleibt, wagt sie, genau das zu schreiben, was sie denkt.»
«Worüber?»
«Unter anderem über die russische Energiepolitik. Die betrifft ja auch Finnland. Denk nur an das Pipeline-Projekt und den Atommüll. Wir sind hochgradig abhängig von der russischen Energieproduktion. Was glaubst du denn, weshalb die meisten
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