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Die Leibwächterin (German Edition)

Die Leibwächterin (German Edition)

Titel: Die Leibwächterin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leena Lehtolainen
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bloß nicht erkältest!»
    «Doch nicht von dem bisschen Regen. Darf ich reinkommen?»
    «Natürlich! Ich backe gerade Preiselbeerkuchen, ich war gestern mit Sylvi und Väinö zum Pflücken im Wald. In fünf Minuten ist er fertig. Trinkst du eine Tasse Kaffee mit mir?»
    Elli Voutilainen winkte mich ins Wohnzimmer. Neugierig ließ ich den Blick über die Wände schweifen. Das Hobby meiner Nachbarin war die Porzellanmalerei, überall hingen ihre Miniaturen. Mir hatte sie auch ein paar geschenkt. Sie malte mit Vorliebe Blumen und Vögel, und auch die Gemälde, die sie auf dem Flohmarkt gekauft hatte, zeigten diese Motive. Doch nun hing ein neues Bild an der Wand, bei dessen Anblick es mir kalt den Rücken herunterlief.
    «Hast du das dem russischen Händler abgekauft, von dem die Mädchen mir erzählt haben?» Das Tantchen war mir ins Wohnzimmer gefolgt. Sie war nur anderthalb Meter groß und so zerbrechlich wie die Porzellanteller, die sie bemalte. «Du solltest lieber keine Wildfremden in die Wohnung lassen», fügte ich hinzu. Ich konnte die Augen nicht von dem Gemälde abwenden.
    «Meinst du, ich wäre hilflos? Ich merke doch, wer es ehrlich meint und wer nicht. Dieser Juri war mir auf den ersten Blick sympathisch. Er arbeitet tagsüber bei der Müllabfuhr, abends malt er, und er schickt alles Geld, das er erübrigen kann, seiner Familie in der Nähe von Murmansk. Von da kommt er nämlich. Ich habe den armen Jungen zum Kaffee eingeladen und Schinkenpasteten für ihn aufgewärmt, er sah so verhungert aus.»
    «Hast du dich selbst für das Bild entschieden?»
    «Nein, Juri hat es ausgesucht. Er sagte, es passt farblich zum Zimmer, und er hat recht, es harmoniert mit dem Sofa und der Tapete. Das Schwanenbild hätte mir eigentlich besser gefallen, aber das ist wahrscheinlich leichter zu verkaufen. Ich gucke mal nach dem Kuchen und decke gleich in der Küche den Tisch.»
    Ich trat näher an das Bild heran. Die Signatur war groß und deutlich: «Juri Trankow». Sicher war das nicht der richtige Name des hausierenden Künstlers. Vielleicht hatte er die Bilder auch gar nicht selbst gemalt, sondern sie irgendeinem Unglücklichen an einer Metrostation in Moskau oder Sankt Petersburg abgekauft. Jedenfalls war der Mann, der mit Trankow signiert hatte, kein schlechter Maler, das dreißig mal vierzig Zentimeter große Bild war dynamisch und ausgesprochen wirklichkeitsgetreu. Unter anderen Umständen hätte es mir gut gefallen, denn es zeigte einen Luchs, der von einem Felsen aus ein Waldren ansprang. Doch nun betrachtete ich das Bild ausschließlich als Warnung. Was hatte die Stimme am Telefon gesagt? Halt den Mund, wenn du nicht so tot sein willst wie die Luchse vom Mantel deiner Chefin.
    Beim Kaffee erkundigte ich mich nach Trankow. Er hatte eine Einkaufstasche auf Rädern bei sich gehabt, die etwa zehn gleich große Gemälde enthielt, alle mit einem Tiermotiv. Er hatte fünfzig Euro für das Bild verlangt, aber Elli Voutilainen hatte ihm sechzig gegeben, weil sie zufällig drei Zwanziger im Portemonnaie hatte.
    «Hat er englisch gesprochen, oder wie habt ihr euch verständigt? Du sprichst doch sicher kein Russisch?»
    «Nein, und Englisch auch kaum. Juri spricht Finnisch, ziemlich gut sogar, wenn man bedenkt, dass er erst letzten Herbst nach Helsinki gekommen ist. Ein fleißiger Kerl.»
    Elli Voutilainen, die keine eigenen Kinder hatte, nahm gern junge Leute unter ihre Fittiche. Ich fragte sie, ob Juri ihr seine Telefonnummer oder seine Adresse hinterlassen hatte. Angeblich war er so arm, dass er nicht einmal ein Telefon besaß. Elli warf mir vor, ich sei voreingenommen, Juri habe nichts weiter mitgenommen als die drei Stücke von der Schinkenpastete, die sie ihm aufgedrängt hatte. Eigentlich glaubte ich auch nicht, dass er noch einmal wiederkommen und die alte Dame ausrauben würde. Er war nur ein Bote, und seine Botschaft war angekommen.
    Da Elli Voutilainen gut zeichnen konnte, bat ich sie, ein Porträt von Juri Trankow zu skizzieren. Kopfschüttelnd sagte sie:
    «Du bist viel zu misstrauisch, Kindchen, aber das ist wohl eine Berufskrankheit.» Ich hatte ihr dieselbe Geschichte aufgetischt wie meinen Mitbewohnerinnen: Ich bewachte Werttransporte und Industrieobjekte. Trotz ihrer Einwände erfüllte sie meine Bitte. Auf dem Papier erschien ein hageres, hohlwangiges Männergesicht mit einem kleinen Ziegenbart und Koteletten. Die hohen Backenknochen, die vorstehende Stirn und die schmale kleine Nase gaben ihm ein slawisches

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