Die Leibwächterin (German Edition)
Möglichkeit. Als ich neben dem Reh stand, stellte ich fest, dass es tatsächlich vorsätzlich getötet worden war, aber nicht durch eine Kugel. Die Wunden am Hals hatte ihm zweifellos ein Luchs beigebracht, der sich auch bereits den Bauch mit Fleisch vollgeschlagen hatte. Als ich mich umsah, entdeckte ich geknicktes Heidelbeerkraut und abgebrochene Zweige. Der Kampf war so heftig gewesen, dass das Geweih des Rehs an zwei Stellen gebrochen war.
Ich hätte den Kadaver natürlich bei der Wildschutzvereinigung oder der Polizei melden müssen. Dem Gesetz nach gehörte das Fleisch des toten Rehs demjenigen, der das Jagdrecht besaß, vermutlich also dem örtlichen Jagdverein. Aber ich war anderer Meinung als das Gesetz: Der Kadaver stand dem Luchs zu, der das Reh gerissen hatte. Vielleicht handelte es sich um ein Muttertier, das Nahrung für seine Jungen brauchte.
Rasch trat ich von dem Kadaver zurück, um keine Duftspuren zu hinterlassen. Die Stelle, an der er lag, war nicht besonders geschützt; auf dem Höhepunkt der Pilzsaison waren oft Pilzsammler im Wald unterwegs, viele davon mit ihren Hunden. Allerdings war der Regen günstig für den Luchs, denn im Nassen sammelte kaum jemand Beeren oder Pilze.
Ich suchte die Umgebung aufmerksam ab. Auf dem teils felsigen, teils von Heidelbeerkraut überwachsenen Waldboden waren die Fährten nicht leicht zu erkennen. Endlich fand ich zwei Pfotenabdrücke und etwas weiter entfernt einige gelbliche Fellhaare, die der Luchs wohl beim Kampf verloren hatte.
Schon früher hatte ich gespürt, dass in der Umgebung ein Luchs lebte, einmal hatte ich mir sogar eingebildet, seine bernsteingelben Augen im Licht meiner Stirnlampe aufblitzen zu sehen, als ich im Dunkeln auf den Kallhuiluberg kletterte, um den Sturm auf mich wirken zu lassen. Am Flussufer seien Luchse gesehen worden, hatte man mir erzählt, und man habe Luchsfährten sowohl auf dem zugefrorenen Meer als auch in den Wäldern von Kopparnäs gefunden, wo den Raubkatzen Hunderte Hektar Lebensraum und steiniges Gelände für ihre Bauten zur Verfügung standen. In diesem Gebiet gab es reichlich Rehe und Feldhasen, aber auch Hunde, deren aufgeregtes Gebell wie eine Kette von Haus zu Haus lief, wenn sie einen Elch oder Luchs witterten.
Die Nähe des Luchses erhöhte meine Wachsamkeit und gab mir neue Energie. Luchse verharrten mitunter lange an einer Stelle, so reglos, dass sie mit der Umgebung verschmolzen und fast unsichtbar wurden. Ich streifte stundenlang durch den Wald, obwohl der Regen immer heftiger wurde. Als ich wieder im Ferienhaus war, breitete ich die Pilze zum Trocknen aus, bevor ich Saara Hirvelä, die Assistentin von Helena Lehmusvuo, anrief. Ich erreichte nur den Anrufbeantworter und hinterließ eine Bitte um Rückruf, der ich noch hinzufügte, dass Frau Lehmusvuo und ich uns schon einmal begegnet waren.
In den Nachrichten ging es um die Militäroperation Russlands in Georgien; die Kommentatoren spekulierten darüber, wie sich der eventuelle Nato-Beitritt Georgiens auf die weltpolitische Lage auswirken würde. Mein Onkel Jari war ein Einöd-Philosoph gewesen; er hatte den Beitritt Finnlands zur Europäischen Union vehement abgelehnt und aus Protest die finnische Flagge verbrannt, als der Beitrittsvertrag geschlossen wurde. Allerdings hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits eine ordentliche Menge von Karhus Schwarzgebranntem intus. Später redete er sich damit heraus, die Fahne sei verschlissen gewesen, und fuhr gleich in der nächsten Woche nach Kaavi, um eine neue zu kaufen.
Bevor Onkel Jari das Sorgerecht für mich übernommen hatte, hatte er an der Berufsschule Zimmermann gelernt und war vier Jahre lang als Bauarbeiter durch die Gegend gezogen. Dann hatte er meinetwegen sesshaft werden müssen. An die Zeit davor hatte ich nur undeutliche, bruchstückhafte Erinnerungen, und ich war mir nicht einmal sicher, was ich mir zusammengesponnen hatte und was der Wirklichkeit entsprach. Immer wieder erinnerte ich mich an ein Hochhaus, wo ich am Fenster stand und zuschaute, wie der Müllwagen vorfuhr. An den Geruch von Kartoffelmus und Würstchen oder Fischstäbchen, mit denen ich gefüttert wurde. An rote Schuhe, deren Absätze auf den Boden pochten, an weiche rote Lippen auf meiner Stirn. An das Rote auf dem Fußboden, das sich überall ausbreitete, meinen Schlafanzug befleckte und sogar durch die Hose drang, an die rote Glut in den Augen meines Vaters, als er merkte, dass ich wach geworden war.
Außer Monika hatte ich
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