Die Leibwächterin (German Edition)
niemandem von diesen wenigen Erinnerungen erzählt, und auch jetzt verdrängte ich sie, indem ich an das tote Reh dachte. Ich hatte nicht die richtige Ausrüstung, um aus großer Distanz zu fotografieren, und wenn der Luchs mich witterte, würde er seine Beute im Stich lassen. Lieber verzichtete ich auf die Begegnung mit einem aus meiner Sippe, als ihm seine Mahlzeit zu verderben.
Ich legte mich hin. Die Angewohnheit, Mittagsschlaf zu halten, hatte ich von Onkel Jari übernommen. Wie schon im Zug von Moskau nach Finnland bewegte ich mich auch jetzt wieder auf der Grenze zwischen Wachsein und Schlaf. Und wieder stand ich vor der Tür des Moskauer Hauses, das Anita gehörte. Sie kam heraus, und im selben Moment erhielt ich einen Schlag und verlor das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, war Anita verschwunden, nur ihr cremefarbenes Seidentuch lag neben mir auf der Straße. An diesem Punkt erwachte ich schlagartig, weil ein Eichhörnchen über das Blechdach lief. War die Szene, die mir gerade durch den Kopf geflimmert war, nur das Produkt meiner Hoffnung, auf so harmlose Weise in den Besitz des Tuchs gekommen zu sein?
Kurz nach sechs Uhr abends klingelte mein Handy. Obwohl das Display einen unbekannten Anrufer ankündigte, meldete ich mich. Ich erkannte die Stimme sofort.
«Helena Lehmusvuo, guten Abend. Mein Beileid. Warst du dabei, als Anita Nuutinen erschossen wurde?»
«Nein. Ich …»
«Dass irgendein Obdachloser es getan haben soll, ist natürlich Unsinn. Dahinter stecken größere Fische. Hatte sie dir den Abend freigegeben?»
«Ich halte es für klüger, nicht am Telefon darüber zu reden.»
«Du hast recht. Können wir uns treffen? Bist du am Wochenende in Helsinki oder in der Umgebung von Kirkkonummi?»
Helena Lehmusvuo wohnte in Kirkkonummi, sie war als Abgeordnete der Provinz Uusimaa ins Parlament gewählt worden. Ich schlug vor, uns in Kirkkonummi zu treffen, und sie lud mich für Freitagabend zu sich nach Hause ein. So hatte ich noch Zeit, mich vorzubereiten, denn natürlich würde auch sie mir Vorwürfe machen. Wenn ich nach Kirkkonummi fuhr, konnte ich dort in der Bibliothek meine E-Mails lesen und im Internet recherchieren. Aber in den nächsten zwei Tagen würde ich in aller Ruhe überlegen, wie Anitas Safe zu öffnen war.
Ich aß ein Pilzomelett und machte im Saunaofen Feuer. Während ich darauf wartete, dass die Sauna heiß wurde, schrieb ich Kombinationen auf, die Anita trotz meiner Ratschläge eventuell benutzt haben konnte. Ihr Geburtsdatum, das ihrer Tochter, beide in umgekehrter Reihenfolge und nach verschiedenen Regeln gemischt. Meine Personenkennziffer und meine Kontonummer, die Nummern unserer Pässe, sämtliche Telefonnummern, die irgendeine Verbindung zu Anita hatten, einschließlich der offiziellen Nummer von Walentin Paskewitsch. Ich probierte sie systematisch, aber erfolglos aus. In der Sauna lockerte ich meine Muskeln und versuchte mich zu entspannen, dann trank ich ein Bier und ein kleines Glas Tequila und sah mir die Spätnachrichten an. Über Anita wurde nicht mehr berichtet. Vor dem Einschlafen las ich in einem zerfledderten Mädchenbuch, das ich im Haus gefunden hatte, bis mir die Augen zufielen.
In der Morgendämmerung weckte mich eine Schar Kraniche, die geräuschvoll über das Haus flog. Ich ging auf die Toilette, trank ein Glas Wasser und versuchte, noch einmal einzuschlafen. Plötzlich lag ich auf weichem Moos, die Frühlingssonne wärmte mich. Ich spürte einen Druck zwischen den Beinen, dann den unwiderstehlichen Drang, zu pressen, und im nächsten Moment entschlüpfte meinem Körper ein kleines, blutverschmiertes Luchsjunges, das sofort an meine Brust kroch. Bevor es am Ziel war, kam ein zweites zur Welt, das ebenso kraftvoll und entschlossen aus mir hervordrang und sich an der anderen Brust festsaugte. Ich spürte, wie die Milch aus meinen Brüsten in die hungrigen Mäuler strömte und wie kühl sich das feuchte Fell der Jungen auf meinem Bauch anfühlte. Dann schob sich noch ein drittes Junges aus mir heraus, das nicht weniger hungrig war als seine Geschwister, und ich fragte mich besorgt, was nun werden solle, denn ich hatte ja nur zwei Brüste. Doch als ich meinen Bauch ansah, merkte ich, dass mir ein Luchsfell und zwei weitere Zitzen gewachsen waren. Das letzte Junge saugte sich an der unteren Zitze auf der Herzseite fest, und wir schnurrten alle vier. Ich wurde langsam wach, versuchte aber an dem Traum festzuhalten, der sich allmählich in die bewusste
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