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Die Leiche am Fluß

Die Leiche am Fluß

Titel: Die Leiche am Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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mal gewesen war. Heutzutage, da die Hölle offiziell praktisch abgeschafft war, konnte man bedeutend lockerer mit der Sünde umgehen.
    Die Ergebnisse der 5 C in Englisch waren mehr oder weniger erwartungsgemäß ausgefallen. Julia suchte auf der Liste nach dem einzigen Schüler, dessen Nachname mit C anfing. Costyn, K.: Religion ungenügend, Englisch ausreichend, Mathematik ungenügend, Erdkunde ungenügend, Werken ungenügend. Nach zwölf Jahren Schule ein einziges «Ausreichend» — was ihn allerdings nicht weit bringen würde. Zunächst in das für ihn zuständige Arbeitsamt. Später vielleicht in den Knast...
    Wie schade, daß es nur ein «Ausreichend» und nicht ein «Befriedigend» geworden war.
    Um 10.30 Uhr ging sie zu Fuß zum nahegelegenen Churchill Hospital, wohin sie für elf bestellt war. Kurz vor ihrem Termin saß sie im Wartezimmer. Sie dachte nun nicht mehr an Kevin Costyn und seine früheren Klassenkameraden, sondern an sich selbst.
    «Wie fühlen Sie sich?» fragte Dr. Basil Shepstone, ein hochgewachsener Südafrikaner mit runden Schultern und lichtem Haar.
    «Soll ich mich ausziehen?»
    «Nichts wärre mir lieberrr», sagte er mit dem für ihn typischen rollenden R. «Heute ist das nicht nötig. Aber beim nächstenmal bestehe ich darauf!»
    Der Blick der gütigen braunen Augen war traurig geworden, und er legte ihr die rechte Hand auf die Schulter.
    «Wollen Sie zuerst die gute Nachricht hören oder die schlechte?»
    «Diegute, bitte.»
    «Ihr Zustand ist relativ stabil, und das nenne ich eine sehr gute Nachricht.»
    Julia schluckte. «Und... die schlechte?»
    «Soll ich vorlesen?»
    Julia sah auf den Briefkopf. Gesundheitsbehörde Oxfordshire... Sie schloß die Augen.
    «Hier steht... blablabla... »
    «Das heißt, wenn es mir schlechtergeht, können sie nicht operieren?»
    Shepstone legte den Brief aus der Hand. «Sprachlich gefällt mir Ihre Formulierung bedeutend besser.»
    Sie seufzte, schlug die Augen auf und sah ihn an. Er war immer so freundlich und dabei so kompetent. Sie wußte genau, warum er ihren Blick mied und statt dessen mit dem Kugelschreiber auf dem Briefkopf das O von Oxfordshire schraffierte.
    «Wie lange?» fragte sie.
    Er schüttelte den Kopf. «Kein guter Arzt wäre so vermessen, das vorauszusagen.»
    «Ein Jahr?»
    «Möglich.»
    «Ein halbes?»
    Hilflos hob er die breiten Schultern.
    «Weniger?»
    «Wie gesagt...»
    «Würden Sie an meiner Stelle aufhören zu arbeiten?»
    «Ja, möglichst bald.»
    «Würden Sie es an meiner Stelle jemandem sagen?»
    Er zögerte. «Nur jemandem, der Ihnen am Herzen liegt.»
    Sie stand lächelnd auf. «Es gibt nicht viele Menschen, die mir am Herzen liegen. Sie, natürlich... und meine Putzfrau...» Sie sah auf die Uhr. «Mit der ich in genau einer Stunde im Old Parsonage Hotel zum Essen verabredet bin.»
    «Und ich bin nicht eingeladen?»
    Sie schüttelte den Kopf. «Tut mir leid. Es ist ein sehr privates Gespräch unter vier Augen.»

    Als Mrs. Stevens gegangen war, nahm der Arzt ein Taschentuch und wischte sich rasch über die Augen. Was hätte er sonst sagen sollen? Er hielt nicht viel davon, seinen Patienten Märchen zu erzählen, und er machte sich Vorwürfe, daß er Mrs. Phillotson, die Patientin, die gestern gestorben war, so schamlos angelogen hatte.
    Die beiden Fälle lagen ähnlich. Ähnlich hoffnungslos.

18

    Schädliche Fliegen verderben gute Salben; also
    wiegt ein wenig Torheit schwerer denn Weisheit und Ehre.
    (Prediger 10,1)

    Morse wußte genau, daß er in seiner Laufbahn bei der Kriminalpolizei von Thames Valley bestenfalls noch einige wenige — wenn überhaupt — Mordfälle lösen würde. Dirigenten und Richter am Obersten Gerichtshof konnten ungeachtet ihrer nachlassenden geistigen Kräfte ihren Beruf bis ins hohe Alter ausüben. Polizeibeamte hingegen hörten gewöhnlich lange vor Einsetzen der Vergreisung auf, und Morse trennten nur noch ein paar Jahre vom normalen Rentenalter.
    Vielen Menschen fällt es schwer zu erkennen, wann die durchaus noch aktiven mittleren Jahre aufhören und es an der Zeit ist, den allfälligen Rentenantrag zu stellen. Vielleicht dann, wenn Nostalgie an die Stelle der Hoffnung tritt. Oder wenn man sich mit der betrüblichen Tatsache abfinden muß, daß man sich nicht mehr verlieben kann. Oder — und so war es bei Morse — wenn man genötigt ist,

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