Die Leiche am Fluß
sich aufs Bett zu setzen, um die Hosen anzuziehen.
Solche und ähnliche Gedanken gingen Morse am Samstag, dem 3. September, durch den Kopf, als er vormittags im Summertown Health Centre saß.
Eine leichte Erkältung hatte sich wieder mal zu einer massiven Bronchitis ausgewachsen, aber er tröstete sich mit der Überlegung, daß er sich nur noch eine Predigt über die Gefahren des Tabakkonsums anzuhören brauchte und dann wohlgemut mit einem Rezept über ein starkes Antibiotikum von dannen ziehen konnte.
Schon im Gehen fiel Morse ein, daß er die Times im Wartezimmer hatte liegenlassen. Er machte kehrt und stellte fest, daß sich zu den Wartenden — einem magersüchtigen jungen Mädchen und einem sommersprossigen Jüngling mit erheblichem Übergewicht - inzwischen noch eine schlampig gekleidete Frau mit Ringen in der Nase gesellt hatte, die Morse — wie zu erwarten — auf Anhieb unsympathisch war.
Wortlos nahm er die Zeitung von dem Platz neben ihr. Die schlammgrünen Augen, dachte er unwillkürlich, sehen aus wie das Wasser im Oxford-Kanal bei Wolvercote. Nur wenig später rief die Sprechstundenhilfe ihren Namen auf: «Eleanor Smith, bitte.»
Aber da war Morse schon weg.
Die Adresse einer Abtreibungsklinik hatte sie schon bekommen, aber eine ihrer Freundinnen, eine Autorität auf diesem Gebiet, hatte ihr erzählt, die Klinik sei inzwischen geschlossen, sie mußte sich also was anderes suchen. Der Arzt sollte ihr gefälligst eine Möglichkeit in der Nähe nachweisen, für so was waren diese Typen schließlich da.
Auf dem für die Ärzte der Klinik reservierten Parkplatz wartete Lewis in einem gekennzeichneten Dienstfahrzeug. Er war guter Laune, da der Fall sich einigermaßen zufriedenstellend zu entwickeln schien.
Als Susan Ewers gestern nachmittag ihre Aussage gemacht und unterschrieben hatte, war vieles, was Morse bereits angedeutet hatte, auch Lewis klargeworden.
Der Verdacht richtete sich nun in erster Linie gegen Edward Brooks, der vor Mrs. Ewers Hausdiener im Aufgang G von Drinkwater Quad gewesen war. Die für Morse ungewöhnlich geradlinige und unspektakuläre Hypothese lautete wie folgt:
Wir können davon ausgehen, daß Brooks eine Schlüsselrolle — wenn auch nur als Vermittler — bei der Versorgung der jungen Leute (unter anderem auch Matthew Rodway) mit Drogen gespielt hatte; daß die Hochschulleitung nach Rodways Selbstmord das Treiben in Aufgang G genauer unter die Lupe nahm; daß McClure, der auch dort wohnte, energisch darauf hinarbeitete, Brooks von seinem Posten zu entfernen (der dann Wolsey College zufällig zur gleichen Zeit verließ wie der in den Ruhestand gehende McClure); daß der frühere Hausdiener, wie Mrs. Ewers in ihrer Aussage bestätigt hatte, weiter seinen Geschäften nachgegangen und diese Tatsache McClure zu Ohren gekommen war; daß McClure dem Mann mit Bloßstellung und juristischen Schritten gedroht hatte, die mit ziemlicher Sicherheit zu einer Haftstrafe geführt hätten; daß McClure im Laufe einer Auseinandersetzung in Daventry Court von Brooks ermordet worden war.
Diese Hypothese hatte den großen Vorzug, daß sie allen bekannten Fakten gerecht wurde, und wenn sie sich durch weitere Fakten, die zweifellos bei dem für diesen Nachmittag im Pitt Rivers Museum verabredeten Termin ans Licht kommen würden, erhärten ließ...
Lewis nahm sich noch einmal den kurzen Zusatzbericht der Pathologin vor, der heute früh auf dem Schreibtisch von Morse gelegen hatte.
Zu Hd. Det. C. I. Morse:
Keine exakte Angabe betr. Todeszeit McClures möglich, aber Eingrenzung auf Zeitraum: 28. August, vormittags zwischen acht und zwölf. Zum Messer: Klinge ungewöhnlich breit, 4 - 5 cm, etwa 14 - 15 cm lang, glatte Durchdringung mit starken inneren und äußeren Blutungen (wie schon berichtet). Klinge offenbar nicht sehr scharf, da stark ausgefranste Wundränder. Kräftig geführter Stoß. Eher Mann als Frau? Vielleicht Frau mit kräftigem Handgelenk/ Arm (oder Wut im Bauch?). Hab etliche Exemplare dieses schwächeren (!) Geschlechts vor einem Jahr bei einem Kampfsportkurs erlebt. Weitere Einzelheiten können angefordert werden.
Alles sehr technisch — aber vielleicht brauchbar?
Laura Hobsort.
«Zumindest weiß sie, wo ein Punkt hingehört und wo nicht», hatte Morse gesagt.
Lewis, der das nicht so genau wußte, hatte sich jeden Kommentars enthalten.
Beiden war klar, wie wichtig es war, das Messer zu finden.
Ohne Tatwaffe kam man bei einer Mordermittlung kaum weiter. Phillotson
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