Die Leiche am Fluß
Sie den Job hier bekommen haben, da tun Sie sich doch ein bißchen leichter.»
Lewis lächelte mitfühlend. Und Morse lächelte dankbar. Lewis hatte mal wieder die Situation gerettet.
Gestalt ist, wie man in jedem psychologischen Wörterbuch nachlesen kann, die Bezeichnung für solche Gebilde oder Sachverhalte, die zwar voneinander unterscheidbare Einzelkomponenten (Elemente, Glieder) aufweisen, deren wechselseitige Abhängigkeit in einem ganzheitlichen Zusammenhang jedoch Eigenschaften zeigt, die keiner Einzelheit (Element, Glied) zugeschrieben werden können, sondern nur dem Ganzen, wobei es sich bei den Einzelkomponenten (Elementen, Gliedern) um Rauschgift, Hausdiener, einen Selbstmord, einen Mord, einen Aufgang und einen Stellenwechsel, Arbeitslosigkeit und Pensionierung und Geld und Uhrzeiten und Daten handeln kann... Ja, insbesondere Uhrzeiten und Daten...
Vermutlich war Matthew Rodways Wohnung in den wenigen verbleibenden Wochen gegen Ende des letztjährigen Sommertrimesters nicht wieder belegt und vielleicht auch in den Sommerferien nicht genutzt worden, so daß möglicherweise Mrs. Ewers die erste gewesen war, die nach dem Selbstmord des jungen Mannes diese Räume betreten hatte. Aber nein, das konnte nicht stimmen, McClure hatte auf Ersuchen von Mrs. Rodway ja schon die Sachen ihres Sohnes durchgesehen, war aber vermutlich dabei nicht halb so gründlich vorgegangen wie die Nachfolgerin von Hausdiener Edward Brooks.
Morse hatte sie zwar zu diesem Punkt schon befragt, aber vielleicht hatte er nicht die richtigen Fragen gestellt?
«Nur noch eins, Mrs. Ewers... Hat in den Sommerferien jemand die frühere Wohnung von Mr. Rodway benutzt?»
«Ich glaube nicht.»
«Und Ihnen ist, als Sie im Herbsttrimester hier angefangen haben, nichts aufgefallen?»
«Nein, wie gesagt...»
«Schon gut. Wäre etwas zu finden gewesen, hätten Sie es gefunden.»
Sie wirkte erleichtert.
«In den Räumen selbst jedenfalls», fügte Morse hinzu.
«Wie bitte?»
«Sie sind doch bestimmt eine sehr ordnungsliebende junge Frau und haben sicher einen gründlichen Frühjahrs- oder vielmehr Herbstputz veranstaltet.»
Susan Ewers wußte offenbar nicht so recht, worauf er hinauswollte. «Ja, ich hab hier gründlich geputzt, das stimmt. Es war alles ziemlich verdreckt, zwei Tage hab ich gebraucht. Aber Rauschgift oder so was hab ich nicht gefunden... ehrlich nicht.»
Morse, der die einzige Sitzgelegenheit, die es in diesem kleinen Raum gab, in Beschlag genommen hatte, erhob sich, ging zur Tür und stellte seine vorletzte Frage.
«Haben Sie eine Hypothek?»
«Ja.»
«Ist sie hoch?»
Sie nickte bedrückt.
Draußen besah sich Morse die Tür zu Susans Pantry, die im Rahmen gut paßte, aber zwischen dem blauen Türblatt und dem Linoleumboden einen zwei Zentimeter breiten Spalt aufwies.
Sehr ruhig, sehr leise stellte er die letzte Frage: «Wann fing das mit den Briefen an, Susan?»
Sie sah erschrocken zu ihm hoch, und jetzt stand in ihren Augen unverkennbar ein Ausdruck von Angst.
17
Examen: Prüfung; Unterbeweisstellung von Wissen und hoffentlich auch von Fähigkeiten; eingehende Untersuchung (bes. med.).
(Small’s Enlargcd English Dictionary, 1812)
Für Freitag, den 2. September, den Tag nach ihrer Rückkehr aus dem Urlaub, standen in Julia Stevens’ Kalender drei wichtige Termine.
Zunächst die Schule.
Noch nicht der gefürchtete Beginn des Schuljahres (der war zum Glück erst in drei Tagen), aber ein Besuch im Sekretariat zur Durchsicht der Prüfungsergebnisse, die während ihres Urlaubs eingegangen waren. Wie jeder Lehrer, der etwas auf sich hält, wollte sie wissen, wie ihre Schüler in den Abschlußprüfungen abgeschnitten hatten.
Früher — auch noch in Julias eigener Schulzeit — war cs nicht einfach gewesen, zu den Prüfungen zugelassen zu werden, geschweige denn, sie zu bestehen. Prüfungen waren wie die Trennung der Schafe von den Böcken, der Geretteten von den Verlorenen im Neuen Testament — eine Geschichte, die Julia dank des seelsorgerischen Eifers eines Pfarrers kannte, für den sie als Zehneinhalbjährige leidenschaftlich geschwärmt hatte.
Aber die Zeiten hatten sich geändert.
1994 waren Schüler, die eine Prüfung nicht bestanden, eine bestaunenswerte Ausnahmeerscheinung, und ein Schüler, der so schlechte Leistungen aufwies, daß man ihn ohne Abschlußzeugnis ins Leben entließ, mußte geradezu gigantisch faul oder dumm sein. Aber auch die christliche Doktrin war ja nicht mehr das, was sie
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