Die Leiche am Fluß
der vier Personenwagen, ein Land-Rover und ein schwarzer Lieferwagen geparkt waren. Etwa fünfzehn Personen umringten ein Etwas, über das eine graue Plane gebreitet war.
Auf der Brücke standen weitere vierzig, fünfzig Personen, die sich über das Geländer lehnten und das, was sich fünfzehn Meter unter ihnen tat, verfolgten wie Regattazuschauer auf den Brücken zwischen Mortlake und Putney. Morse, der schweigend neben Lewis saß, hätte es herzlich gern jedem dieser sensationslüsternen Gaffer überlassen, an seiner Stelle einen Blick unter die Plane und auf die Leiche zu werfen, die man soeben aus der Themse geholt hatte.
Nach dem Notruf-Alarm war alles sehr schnell gegangen. Zehn Minuten später war Constable Carter mit einem weißen Streifenwagen an Ort und Stelle gewesen und hatte dankbar die Ratschläge des Mitarbeiters der Flußmeisterei angenommen, eines untersetzten, dunkelhaarigen Mannes, der in seinen fünfundzwanzig Dienstjahren schon so manche Wasserleiche gesehen hatte. Von Sulhamstead war die Unterwasser-Sucheinheit angerückt, und etwas später war auch ein Arzt eingetroffen. Man hatte die in Plastiksäcken steckende (männliche) Leiche aus dem Fluß gefischt, wobei sie fast aus der äußeren Umhüllung — einer Teppichrolle — gerutscht wäre, auf die Rampe gelegt und zugedeckt. Dann hatte man unverzüglich die Kriminalpolizei verständigt, die Inspector Morrison sowie einen Kollegen von der Spurensicherung und einen Polizeifotografen an den Fundort geschickt hatte. Mit der Ankunft eines munteren jungen Bestattungsunternehmers kurz vor zwölf war das Team fast komplett.
Bis auf Morse und Lewis.
Die unmittelbar Beteiligten kannten natürlich die Gründe für diesen nicht unerheblichen Aufwand, aber auch die Vogelkundler, die sich mit ihren starken Ferngläsern zu den Zuschauern auf der Brücke gesellt hatten, waren inzwischen im Bilde. Es handelte sich offenbar nicht um eine gewöhnliche Wasserleiche. Selbst durch die dreifache Plastikumhüllung sah man deutlich den breiten Griff eines Messers, das tief im Rücken des Toten steckte. Und als auf Anweisung von Morrison — unter einem wahren Blitzlichtgewitter aus den verschiedensten Blickwinkeln — die Naht an der oberen Seite der Plastikumhüllung aufgetrennt worden war und man dem Toten beherzt in die Tasche gegriffen hatte, wußte man sehr bald, wer der Mann war.
Am Schwarzen Brett des Reviers von St. Aldate’s hing das Foto eines Vermißten, darunter sein Name und eine kurze Beschreibung. Doch Morrison hatte den Gesuchten nicht an seinem schwärzlich verfärbten Gesicht erkannt, sondern an dem Dienstausweis in der durchweichten Brieftasche.
Es war Edward Brooks.
Woraufhin erneut intensiv herumtelefoniert und Morse zum Fundort beordert worden war.
Hin und wieder läuft etwas auch auf dem Amtsweg schnell und reibungslos, manchmal kann man der Polizei zu ihrer Umsicht nur gratulieren. Es war deshalb besonders bedauerlich, daß ein peinlicher Zwischenfall den professionellen Eindruck etwas getrübt hatte.
Beim Anblick der noch relativ gut erhaltenen Leiche hatte sich Constable Carter, der noch nicht lange bei der Polizei war, tapfer gehalten. Völlig unvorbereitet aber traf ihn der unbeschreibliche Gestank, der schon vor der Anweisung des Inspector, die Umhüllung zu öffnen, von dem Toten ausging, dieses Gemisch aus fauligem Flußwasser, verstopften Abflüssen und bevorstehendem Verfall — ein wahrer Todeshauch. Und Constable Carter hatte sich abgewandt, ziemlich geräuschvoll in die Themse gekotzt und gehofft, daß vielleicht niemand etwas gemerkt hatte.
Natürlich hatten aber fast alle, auch die Zuschauer auf dem Olymp, den kurzen, peinlichen Vorfall registriert.
Und jetzt war Morse dran.
Phobien sind relativ häufig. Manche Menschen leiden an einer Arachnophobie oder Hypsophobie, einer Myophobie oder Pterophobie... Fast jeder leidet hin und wieder an Thanatophobie, viele an Nekrophobie, auch wenn Morse, wie er sich immer wieder sagte, keine Angst vor Toten hatte. Nein, er litt an einer völlig neuartigen, offenbar ihm ganz allein vorbehaltenen Phobie: der Angst, ihm könne beim Anblick von Menschen, die unter ungeklärten Umständen oder auf besonders grausame Art den Tod gefunden hatten, schlecht werden. Selbst Morse mit seiner humanistischen Bildung hatte für eine solche Phobie keinen hinreichend anschaulichen oder etymologisch treffenden Ausdruck finden können, der im übrigen auch viel zu lang und zu prätentiös
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