Die Leiche am Fluß
genauer. Einverstanden?»
Morse nickte. «Wir verlassen uns da ganz auf Sie.»
«Eindeutig Mord — es sei denn, daß ihm jemand, nachdem er eines natürlichen Todes gestorben war, ein Messer in den Rücken gestoßen und ihn in den Fluß geworfen hat.»
«Ziemlich unwahrscheinlich», räumte Mose ein.
Dr. Hobson packte ihre Ausrüstung zusammen, und Morse fragte vorsichtshalber: «Und Sie rühren bestimmt das Messer nicht an, bis...»
«Na hören Sie mal! Sie trauen Ihren Kollegen ja schöne Sachen zu...»
Sie war eine gutaussehende junge Frau, und als sie die Nachfolge von Max angetreten hatte, dem Morse noch immer nachtrauerte, hatte er die Möglichkeit, sich ein bißchen in sie zu verlieben, nicht ausgeschlossen. Inzwischen aber träumte er nicht mehr von ihr.
Morse hatte wohlweislich (was fast ohne Beispiel war) auf das mittägliche Bier verzichtet, und um 15.15 Uhr stand er mit Lewis vor dem leblosen Körper von Edward Brooks. Die Plastiksäcke lagen zu den Füßen des Toten gefaltet wie die Leintücher nach der Auferstehung. Außer Dr. Hobson standen zwei weitere Forensiker und ein Kollege von der Spurensicherung um die Leiche herum, aus der ein Messergriff ragte.
Doch es war nicht der zwecks Spurensicherung sorgsam bestäubte Griff, dem die Aufmerksamkeit des Chief Inspector galt, sondern das Etikett, das an diesem Griff klebte. Die Beschriftung war von den Fluten der Themse verwischt und ausgewaschen, aber die rechte Seite war noch deutlich lesbar:
«Das darf doch nicht wahr sein», stieß Morse hervor.
«Wie meinten Sie, Sir?»
Morse antwortete nicht, sondern tippte die weißbekittelte Laura an und fragte zum zweitenmal an diesem Tag nach dem schnellsten Weg zur nächsten Toilette.
57
Karl Popper lehrt, daß Wissen durch die Postulierung und Erprobung von Hypothesen gefördert wird. Ich denke, daß unser Unterbewußtsein zahllose Hypothesen gleichzeitig ausprobiert, von denen es nur eine Auswahlliste der Spitzenreiter an unser Bewußtsein weitergibt.
(Matthew Parris, The Times, 17. März 1994)
Am nächsten Tag, Montag, dem 26. September, waren Morse und Lewis schon ziemlich früh, nämlich kurz nach sieben, im Präsidium.
Morse hatte schlecht geschlafen. Die ganze Nacht waren seine Augäpfel hin und her gegangen, und erst ganz allmählich hatte sich sein Denkapparat auf die dramatische neue Entwicklung eingestellt. Denn die Erkenntnis, daß Brooks nach dem Diebstahl des rhodesischen Messers, ja mit dem rhodesischen Messer ermordet worden war, hatte ihn sehr überrascht.
Nach seiner bisherigen Analyse des Falles, der Beurteilung von Motiven, Mitteln und Gelegenheiten war er zu dem Schluß gekommen, daß zwei, vielleicht auch drei möglicherweise gemeinsam agierende Personen Brooks vom Leben zum Tode befördert hatten. Drei Personen (wie Morse es sah), die sämtlich — wenn auch aus unterschiedlichen Gründen — dessen Ableben als einen Segen für die Menschheit betrachteten.
Drei Verdächtige: die so sanftmütig wirkende Brenda Brooks, die undurchschaubare Mrs. Stevens und die Stieftochter Eleanor Smith.
Drei Frauen, die sich von anderen dadurch unterschieden, daß sie das Kainsmal auf der Stirn trugen, das Zeichen des Mörders.
Aus einer verwirrenden Fülle von Möglichkeiten hatte sich im Laufe der Nacht im Kopf von Morse letztlich dieselbe Auswahlliste wie zuvor herauskristallisiert, hatte der Oberste Richter ihm dieselben drei Umschläge überreicht. Im ersten und im zweiten steckte ein Zettel, auf dem in schwarzen Buchstaben ein knappes «Nicht schuldig» stand. Auf dem dritten Zettel las Morse in roten Großbuchstaben das noch knappere «schuldig». Und auf dem Umschlag, in dem dieser Zettel gesteckt hatte, stand der Name Eleanor Smith.
Fast eine Stunde erörterten Morse und Lewis an diesem Morgen Überlegungen, Ideen, Hypothesen. Und als Lewis um acht mit zwei Bechern Kaffee aus der Kantine kam, sprach er sachlich und unanfechtbar aus, was im Grunde beide schon wußten.
«Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, wie Brenda Brooks oder diese Mrs. Stevens die Tat begangen haben könnten. Schön, wir sind den beiden, seit das Messer gestohlen wurde, nicht gerade mit der Videokamera nachgelaufen, aber wir sind doch ziemlich genau im Bilde. Sie hatten beide ein Motiv. Aber für beide sehe ich keine Gelegenheit.»
«Ich auch nicht», bestätigte Morse ruhig, so daß Lewis Mut faßte und fortfuhr: «Es war ein raffinierter Plan, Sir, und ich bin ganz Ihrer Meinung, daß
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