Die Leichenstadt
forderte die Frau mich auf. »Schau in das Grab hinein, du bist ja immer so neugierig.« Sie selbst ging etwas zurück, um mir den freien Blick zu gönnen.
Ich schaute sie an.
Doreen lächelte. War es ein hintergründiges Lächeln? Wußte sie mehr? Wollte sie mich wieder reinlegen?
Ich vertraute auf mein Kreuz, das bisher jede Magie abgewehrt hatte. Meine Schritte waren kaum zu hören, als ich mich diesem ungeheuer großen Grab näherte. Daneben blieb ich stehen.
Allmählich senkte ich meinen Blick. Ich bekam plötzlich ein seltsames Gefühl. Selbst konnte ich es nicht deuten. Vielleicht war es am besten mit einer innerlichen Unruhe zu umschreiben. Die Ereignisse in der Leichenstadt waren doch nicht so spurlos an mir vorübergegangen. Das hier war für mich eine fremde Welt, die tödliche Überraschungen bergen konnte.
Das Grab zeigte die gleiche Größe wie die anderen auch. Die Tiefe war unheimlich. Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken, als der Blick sich darin festfraß.
Zuerst sah ich nur einen grünen Schlund.
Unendlich weit breitete er sich vor meinen Augen aus. Er schien ins Nichts zu führen, in eine nicht meßbare Ferne. Seine Abmessungen an den Rändern waren nicht klar, sie traten auch nicht scharf hervor, ich sah sie nur verschwommen und von leichten grünlichen Dunstschleiern umwallt.
Aber da gab es eine Bewegung innerhalb des Tunnels. Nah und doch unendlich weit entfernt konnte ich sie wahrnehmen. In diesem Dimensionsschlund bewegten sich Menschen. Zwei größere und ein kleinerer.
Erwachsene und ein Kind?
Ich wußte es nicht, ich merkte nur, daß sich mein Magen irgendwie verkrampfte, und ich ahnte, daß dieser Tunnel noch eine besondere Bedeutung für mich bekommen würde.
War er das Bindeglied zur Außenwelt?
Jetzt drehten sich die Menschen um. Die kleine Person wurde von den beiden größeren in die Mitte genommen, und sie schwebten auf mich zu. Meine Sichtperspektive wurde besser, ich konnte an den dreien vorbeischauen.
Gesichter - Gestalten.
Hinter den einsamen Wanderern.
Gesichter, die ich kannte. Oder täuschte ich mich. Gaukelte mir meine Phantasie etwas vor?
Nein, zum Teufel, nein. Das war eine Tatsache, ich irrte mich nicht, und mir brach aufgrund dieser Gewißheit der Schweiß aus. In der Ferne, vielleicht dort, wo der Tunnel sein Ende zeigte, da warteten meine Freunde.
Suko, Myxin und Kara!
***
Selbst Kara und Myxin, die nichts so leicht erschüttern konnte, standen plötzlich neben Suko und starrten gebannt in den unheimlichen Tunnel. Sie schwiegen, aber ihre Gesichter spiegelten das wider, was sie empfanden.
Staunen!
Suko schluckte. »Wie ist das möglich?« flüsterte er. »Und verdammt noch mal, wo befindet sich John?«
»In der Leichenstadt«, lautete die Antwort. »Er muß sich einfach in der Leichenstadt befinden.«
Suko schaute Kara an, die diese Worte gesprochen hatte. »Können wir ihn da nicht herausholen?«
»Hatten wir das nicht sowieso vor?«
»Im Prinzip hast du recht. Mir ging es um die drei Menschen, nun ist John noch hinzugekommen.« Suko schaute die Freunde an. »Laßt uns nicht länger warten.«
Kara hatte noch Bedenken. »Es wird nicht einfach sein«, sagte sie. »Wir müssen uns absichern.«
»Aber wie?«
»Durch eine Beschwörung.«
Suko schaute die Schöne aus dem Totenreich an. Er schüttelte den Kopf. »Eine Beschwörung dauert viel zu lange. Verdammt, John befindet sich in der Leichenstadt. Er wird dort gefangen sein. Wir haben bisher nur sein Gesicht gesehen, aber ich bin mir sicher, daß wir ihn bald in Aktion erleben…«
»Suko!«
»Ich gehe«, sagte der Chinese innerlich erregt. »Ich kann ihn nicht allein lassen. Wenn ihr mir den Rücken deckt, wird schon nichts schiefgehen, ich verlasse mich auf euch.« Nach diesen Worten nickte er und wandte sich um.
»Versündigen Sie sich nicht!« rief Schwester Bonifatia. »Großer Gott, hier spielen Kräfte eine Rolle, die Sie nicht steuern können. Wirklich, Inspektor…«
Suko zeigte keine Einsicht. Er hatte einmal einen Entschluß gefaßt und blieb auch dabei.
Da er dicht an der Öffnung stand, brauchte er sowieso nur wenige Schritte, um sie zu erreichen. Keiner hielt ihn mehr auf. Er sah auch nicht den verzweifelten Ausdruck auf den Gesichtern der Freunde. Suko war einzig und allein auf die Erreichung seines Ziels fixiert. Schon hatte er die magische Schwelle überschritten. Sofort war alles anders. Suko spürte die fremde Welt, die auch fremde Einflüsse ausströmte. Er kam
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