Die leichten Schritte des Wahnsinns
seinem Gesicht abzuschütteln.
»Kein Grund zur Freude, Wenja. Diese Idiotin hat dem Einsatzleiter von der Petrowka erzählt, was im ›Status‹passiert ist. Sie hat sogar den Namen Sinizyn erwähnt. Habe ich dir eigentlich gesagt, daß dieser Einsatzleiter ein direkter
Untergebener von Krotow ist?«
»Na und? Wer ist Krotow?«
»Wenja, Wenja«, sie schüttelte betrübt den Kopf, »Sergej Sergejewitsch Krotow, Leutnant der Miliz, ist der Ehemann der Poljanskaja.
Im Augenblick ist er allerdings in London, aber er kommt sehr bald zurück. Und dann wird er von seiner geliebten Frau eine
Menge interessanter Neuigkeiten erfahren. Glaubst du, da bleibt er ruhig?«
»Nein, Regina, das glaube ich nicht.« Er seufzte und lehnte sich im Sessel zurück. »Was willst du von mir?«
»Wenja, ich will, daß du dich konzentrierst. Das alles ist sehr ernst. Und du klinkst dich im entscheidenden Moment aus. Wenn
morgen die nächste Rotznase von der Presse auftaucht, bekommst du wieder einen hysterischen Anfall und zitterst wie Espenlaub,
wirst grün im Gesicht und flüsterst: Regina, ich sterbe! Wenja, man redet schon darüber, man zerreißt sich das Maul über dich.
Morgen vormittag hast du eine Live-Sendung im Fernsehen. Wer garantiert mir, daß du nicht die Nerven verlierst?«
»Ich werde schon die Nerven behalten, keine Bange«, sagte er ruhig und bestimmt.
Einen Augenblick sahen sie einander schweigend an, und Regina begriff plötzlich, daß er wirklich die Nerven behalten würde.
Seit dem verfluchten Tag, an dem Sinizyn zum erstenmal erschienen war, hatte Regina ihren Mann nicht mehr so ruhig und selbstsicher
gesehen.
Vor einer Stunde hatte sie den alten Mercedes durchsucht und dort einen zierlichen Damenhandschuh aus schwarzem Leder gefunden.
»Wenja«, flüsterte Regina und berührte seinen Mund leicht mit den Lippen, »ich mag es, wenn du so bist …«
»Wenn ich wie bin?« fragte er und wich etwas zurück.
Aber sie gab keine Antwort. Langsam und zärtlich glitt siemit den Lippen über seine Brust und öffnete die Knöpfe seines Hemdes, einen nach dem anderen. Zuerst saß er da wie eine Statue,
mit erstarrtem und abwesendem Gesicht. Aber es gelang ihr doch, ihn zu erregen. Er schloß die Augen, sie spürte, daß sein
Herz schneller schlug, Leben in seine Hände und Lippen kam.
Niemals war er so zärtlich gewesen, hatte sie so wenig gedrängt. Alles geschah wie in Zeitlupe. Sie fielen auf den dicken
Teppich im Wohnzimmer, vergaßen, daß die Tür nicht verschlossen war und jeden Augenblick die Köchin oder das Zimmermädchen
hereinkommen konnten. Regina schien es, als stehe die Zeit still. Mit Erstaunen merkte sie, daß sie zum erstenmal nach vielen
Jahren nicht die Kontrolle über ihren Mann behalten, nicht auf der Hut sein und seinen Zustand beobachten mußte, besonders
zum Schluß, als er rascher zu atmen begann und seine Hände sich jeden Moment um ihren Hals krallen konnten. Zum erstenmal
konnte sie sich richtig entspannen; all diese Jahre war sie sogar im Bett seine Ärztin und er ihr Patient geblieben – ein
gefährlicher, unberechenbarer Patient.
Und sie entspannte sich. Sie fühlte sich so wohl wie noch nie im Leben. Sie flüsterte ihm schnelle, sinnlose Worte zu, er
flüsterte etwas zurück, sie hörte nur halb hin.
Mit einem tiefen Seufzer und dem Gefühl süßer, flüchtiger Schwäche öffnete sie die Augen und erblickte sein Gesicht. Seine
Lider waren fest geschlossen, der Mund etwas geöffnet.
»Lena«, sagte er langsam und deutlich.
***
Michael schlief nicht. Er sah fern, wobei er dauernd von einem Kanal zum anderen zappte. Er verstand kein Wort, lachte aber
Tränen. Besonders erheiterte ihn die russische Werbung, die nach amerikanischem Vorbild gemacht war,diese aber so sklavisch imitierte, daß die beabsichtigte Wirkung ins Gegenteil umschlug. Schokoladen und Shampoos wurden von
Schauspielern mit so widerlichen Gesichtern und Stimmen angepriesen, als sollten die Zuschauer vom Kauf und Gebrauch nachdrücklich
abgeschreckt werden.
Michael merkte, daß ihm die Augen zufielen, und sah auf die Uhr. Es war Viertel vor zwei. Er machte den Fernseher aus und
ging unter die Dusche. Als er sich schon schlafen legen wollte, fiel ihm ein, daß er noch das untere Schloß abschließen mußte.
Er ging zur Tür, streckte schon den Arm aus, da hörte er ein leises Knirschen im oberen Schlüsselloch.
»Lena?« rief er laut. »Bist du das?«
Das Knirschen hörte
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