Die leichten Schritte des Wahnsinns
Lena lachte spöttisch. »Olga, ich habe eine Bitte. Wenn irgend jemand, unter welchem Vorwand
auch immer, von dir wissen will, wo ich bin, dann …«
»He, Poljanskaja«, unterbrach Olga sie entrüstet, »wofür hältst du mich?«
»Entschuldige, sei nicht böse. Ich bin so müde.«
»Im Ernst, ich rate dir, Wolkow alles zu erzählen. Zumindest kannst du an seiner Reaktion sehen, was los ist. Obwohl meiner
Meinung nach auch so alles klar ist. Ich sehe ihn wieder vor mir, den Armen, wie ihm damals vor Aufregung das Blut aus der
Nase getropft ist, so hat er deinetwegen gelitten und sich gegrämt.«
»Ja, er hatte einen hellen Pullover an«, sagte Lena langsam, »mit dunklen Blutflecken …«
Bevor sie ins Bett ging, stellte Lena den Wecker auf neun Uhr früh. Sie wollte den Nachbarn von gegenüber noch anrufen, bevor
er um halb zehn zur Arbeit ging.
***
Um Zutritt zur kardiologischen Abteilung zu bekommen, mußte Mischa Sitschkin erst lange mit der diensthabenden Ärztin und
dem Chefarzt verhandeln.
»Galina Sergejewna darf nicht beunruhigt werden.« Die Ärztin sträubte sich hartnäckig. »Ihr Zustand ist ernst, sie hat einen
Infarkt erlitten.«
Die mondäne Privatklinik hatte ihre eigenen Gesetze, besonders für die zahlenden Patienten. Trotz aller Bemühungen wollte
man Mischa nicht erlauben, die Mutter des ermordetenJuri Asarow zu befragen. Da die Zeit drängte, griff er zu härteren Maßnahmen. Er schob die Ärztin höflich beiseite und marschierte
kurzentschlossen auf das Zimmer zu, in dem Galina Sergejewna lag.
»Dafür werden Sie sich verantworten müssen!« schallte es ihm nach. »Ich werde mich bei Ihrem Vorgesetzten beschweren!«
Aber Mischa hatte das Krankenzimmer bereits betreten.
»Ich habe schon die ganze Zeit darauf gewartet, daß jemand von der Miliz kommt«, sagte die mollige blasse Frau und stützte
sich auf.
»Ziehen Sie wenigstens einen Kittel über«, verlangte die Ärztin, die hinter Mischa ins Zimmer gestürzt kam.
»Gern, wenn Sie mir einen geben«, sagte Mischa lächelnd.
»War Ihr Sohn oft bei Ihnen?« fragte er Galina Sergejewna, als sie endlich allein in dem gemütlichen Einzelzimmer waren.
»Manchmal besuchte er mich jede Woche, manchmal alle vierzehn Tage, das hing davon ab, wieviel er zu tun hatte.«
»Brachte er auch Gäste mit?«
»Selten. Gewöhnlich kam er allein. Er erholte sich bei mir von der Arbeit. Wenn er jemanden mitbrachte, sagte er vorher immer
Bescheid: Mama, ich habe mal wieder eine Geheimkonferenz. Das bedeutete, er wollte in Ruhe etwas Wichtiges besprechen.«
»Wann war er das letzte Mal bei Ihnen?«
»Das war genau zwei Tage vor dieser Schießerei im Restaurant. Er brachte einen jungen Mann mit. Er flüsterte mir noch ins
Ohr, Mama, das ist ein Treffen mit einem Geheimagenten unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Es hörte sich an wie ein Scherz,
aber es war eine Warnung. Im Showgeschäft gibt es so viele Intrigen, das ist ein richtiger Sumpf.«
»Galina Sergejewna«, unterbrach Mischa sie vorsichtig, »bitte erzählen Sie mir doch Genaueres über dieses Treffen.«
»Sie schlossen sich im Zimmer ein und redeten eine gute Stunde miteinander. Einmal bin ich hineingegangen und habe ihnen Tee
gebracht. Offenbar war der junge Mann auch aus der Musikbranche. Sie sprachen von einer PR-Kampagne, von einer CD … Alles
in diesem Berufsjargon, wissen Sie.«
»Juri hat ihn nicht mit Namen angeredet?«
»In meiner Gegenwart nicht.«
»Wie sah der junge Mann aus?«
»Groß und blond. Lockiges, kurzes Haar. Das Gesicht«, sie dachte nach, »angenehm, sogar schön. Dem Aussehen nach etwa dreißig,
vielleicht etwas darüber. Graublaue Augen, die Nase … Nein, so genau kann ich mich nicht mehr erinnern.«
»Was hatte er an?«
»Einen dicken schwarzen Pullover und schwarze Jeans. Ja, und riesige abgetragene Schuhe. Er hat sie im Flur ausgezogen.«
»Galina Sergejewna, könnten Sie diesen jungen Mann nach einer Fotografie identifizieren?«
»Bestimmt. Ich habe ein gutes Gedächtnis für Gesichter.«
»Welchen Eindruck hatten Sie, war es ein freundschaftliches Gespräch?«
»Ich denke, ja. Jedenfalls habe ich keinerlei Feindseligkeit zwischen ihnen gespürt. Juri war überhaupt ein lieber Junge,
auch als Kind hat er sich nie geprügelt oder gezankt.«
Mischa bemerkte, daß die Stimme seiner Gesprächspartnerin zitterte und sie nur mit Mühe Luft bekam. Es wurde Zeit zu gehen.
Die Ärztin hatte ihn nicht aus purer
Weitere Kostenlose Bücher