Die leichten Schritte des Wahnsinns
überhaupt nicht mehr erinnern, aber ich sehe Sie an und zermartere mir das Gehirn: Wo habe ich Sie gesehen?
Übrigens, ich koche zwar nicht mehr selbst, denn das Essen hier im Heim ist ausgezeichnet, aber einen Wasserkocher und alles,
was zum Tee gehört, habe ich da. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, sehen Sie doch im Buffet nach, dort finden Sie alles Nötige.«
Während Lena den Tee zubereitete, fuhr sie fort:
»Wissen Sie, es ist ein sehr ruhiges Heim, sauber, komfortabel und immer so grabesstill wie jetzt. Die medizinische Versorgung
ist hervorragend, Massagen und alle möglichen Therapien. Es gibt nur niemanden, mit dem man reden kann. Früher war es ein
spezielles Heim für Parteiveteranen, das beste im ganzen Tjumener Gebiet. Jetzt laden hier die Neureichen dieser Gegend ihre
alten Leutchen ab. In jedem Stock sind höchstens fünf Zimmer belegt. Der Unterhalt ist sehr teuer. Ich habe mich so lange
wie möglich selbst versorgt, aber man wird nicht jünger. Natürlich bin ich meiner Tochter sehr dankbar, aber …«
»Entschuldigen Sie, Valentina Jurjewna.« Lena reichte ihr das große Gruppenfoto und zeigte auf das Gesicht des häßlichen Mädchens.
»Ist das Ihre Tochter?«
»Ja.« Die alte Frau nickte. »Das ist Regina.«
Lena sah, wie sich einen Augenblick lang ein Schatten auf ihr Gesicht legte.
»Haben Sie noch andere Fotos von ihr?«
»Warum fragen Sie, meine Liebe?«
»Wissen Sie, ich glaube, ich habe dieses Gesicht schon irgendwo gesehen, vielleicht ist Ihre Tochter mir schon einmal begegnet.
Lebt sie jetzt in Moskau?«
»Sie lebt schon lange in Moskau. Gut möglich, daß Sie sie kennen. Aber andere Fotografien habe ich leider nicht. Dies ist
die einzige.«
»Seltsam. Sie sammeln doch Fotos. So viele Aufnahmen von fremden Menschen.«
»Regina hat alle Fotos von sich vernichtet. Auch ihr Gesicht hat sie vernichtet.« Der letzte Satz klang laut, etwas erzürnt.
Lena hatte schon gemerkt, daß das Gespräch über die Tochter der alten Frau unangenehm war, aber sie mußte es zu Ende führen,
es ging nicht anders.
»Sie hat ihr Gesicht vernichtet?« fragte sie leise zurück.
»Bringen Sie mir den Stapel Zeitschriften dort vom Regal.«
Rasch blätterte sie einige der bunten Hochglanzjournale durch und reichte dann Lena schweigend eine aufgeschlagene Illustrierte
– die gleiche, die ihr kürzlich Goscha Galizyn gezeigt hatte. Von der Doppelseite lächelte strahlend das »Traumpaar« – der
berühmte Produzent Wenjamin Wolkow und seine schöne Frau Regina Gradskaja.
»Meine Tochter hat sich in einer Schweizer Klinik einer ganzen Serie von plastischen Operationen unterzogen«, sagte Valentina
Jurjewna. »Ihr ganzes Leben lang litt sie unter ihrem Äußeren.«
Kapitel 34
»Mister Barron, ich muß Ihnen mitteilen, daß die Frau, die Sie eingeladen hat, eine gefährliche Kriminelle ist.« Saschas Aussprache
ließ zu wünschen übrig, aber sein Englisch war verständlich und korrekt, ohne Fehler.
Michael sperrte Mund und Nase auf.
»Es gibt eine alte Anekdote«, fuhr Sascha fort. »Ein reiches englisches Ehepaar hatte einen kleinen Jungen, der schon fünf
Jahre alt war und immer noch nicht sprach. Die Eltern waren in großer Sorge, zeigten das Kind verschiedenen Ärzten, aber alles
umsonst. Auf einmal schiebt das Kind beim Mittagessen den Teller weg und sagt laut unddeutlich: Das Steak ist angebrannt. – Johnny, Liebster! – schreien die Eltern, nachdem sie sich vom ersten Schock erholt haben.
– Warum hast du bisher immer geschwiegen? – Bisher war ja alles in Ordnung, erwidert Johnny. So steht die Sache, Mister Barron,
bisher war alles in Ordnung, und deshalb habe ich geschwiegen.«
»Und was ist jetzt passiert?« fragte Michael und schluckte heftig. »Erklären Sie mir, Sascha, wer Sie sind und was los ist.«
»Ich bin Oberleutnant des Sicherheitsdienstes, mein Name ist Wolkowez.«
»Wollen Sie damit sagen, Sie sind vom KGB? Halten Sie mich etwa für einen amerikanischen Spion?«
»Ich begreife, daß diese drei Buchstaben bei Ihnen keine Freude auslösen. Aber meine Behörde ist es nicht, die Sie für einen
Spion hält. Mister Barron, kennen Sie die klassische russische Literatur?«
»Mein Gott, Sascha, werden Sie doch etwas konkreter!«
»Kennen Sie Gogols ›Revisor‹? Es ist wie in diesem Stück – auch Sie hat man für einen anderen gehalten. Die hiesige Mafia
beobachtet Sie sehr aufmerksam. Und das wird langsam gefährlich. Ich denke, Sie
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