Die leichten Schritte des Wahnsinns
Wolkow hatte niemanden
vergewaltigt und getötet.
Irgendwo weit weg, in einer anderen Dimension, auf einem anderen Planeten, existierte der riesige Konzern »Wenjamin«, eine
gewaltige Showbusiness-Maschine, die sich auf finstere Intrigen, Grausamkeit und Blut gründete. Aber er, Wenja Wolkow, hatte
damit nichts zu tun. Er lebte ruhig und glücklich. Lena Poljanskaja sah ihn mit ihren klaren grauen Augen an, und es drängte
ihn, ihr Gesicht zu berühren, zu fühlen, wie ihre langen schwarzen Wimpern unter seiner Hand zitterten. Er streckte den Arm
aus, aber ringsum war Leere, kalte, tote Luft. Diese Luft konnte er nicht atmen. Sie versengte ihm die Kehle und zerriß seine
Lungen. Er mußte aufwachen und wollte es doch nicht.
»Wenja, der Arzt ist da, er will dich untersuchen.«
Er öffnete die Augen und sah zwei Gesichter über sich – das puppenhafte, sorgfältig geschminkte Gesicht von Regina und das
runde, weiche, bebrillte Gesicht eines unbekannten älteren Mannes.
Nur widerwillig riß er sich von der warmen, bunten Traumwelt des Schlafs los und kehrte in die trübe, eisige, schwarzweiße
Realität zurück. Der rundgesichtige Arzt, ein Hals-Nasen-Ohren-Spezialist, hatte trockene, rauhe Hände. Er tastete die Halsdrüsen
ab und schaute ihm in den Mund.
»Einen Abszeß im Rachenbereich sehe ich nicht. Der Hals ist entzündet, aber nicht sehr stark.«
»Eine Angina schließen Sie also aus?« fragte Regina.
»Wer spricht denn von Angina? Das ist eine ganz gewöhnliche Grippe.«
Regina bezahlte mit einem Hundertdollarschein.
Sobald sie das Geräusch des abfahrenden Wagens hörte, kehrte sie ins Schlafzimmer zurück und nahm aus dem Nachttisch eine
Einwegspritze und eine Schachtel mit großen Ampullen, die mit einer durchsichtigen, farblosen Flüssigkeit gefüllt waren. Als
sie mit einer kleinen Diamantnagelfeile den Hals einer Ampulle anfeilte, brach das dünne Glas, und sie schnitt sich in den
Finger. Es war kein tiefer Schnitt, aber er blutete stark. Sie stellte die offene Ampulle vorsichtig auf den Nachttisch und
ging ins Bad.
Als sie ins Schlafzimmer zurückkam, saß Wenja auf dem Bett und hielt die geöffnete Ampulle zwischen zwei Fingern gegen das
Licht.
»Wieso fehlt das Etikett?« fragte er.
»Ich sehe, es geht dir schon besser?« sagte Regina erfreut.
»Ja, ich fühle mich besser. Was hast du mir die ganze Zeit gespritzt?«
»Antibiotika und Vitamine.«
»Ich brauche jetzt keine Medikamente mehr. Auch keine Ärzte. Tu nicht so, als ob ich todkrank wäre. Bring mir das Telefon.«
»Ganz wie du willst, mein Schatz.«
***
Lena rollte sich unter ihrer Jacke zusammen und versuchte zu schlafen. Sie wußte nicht, wie spät es war, ihre Uhr war verschwunden.
Wahrscheinlich war das Lederarmband gerissen, als man ihr die Handschellen angelegt hatte. Durch das winzige Fenster konnte
sie nur ein Stück Himmel sehen, das inzwischen schon erheblich heller geworden war.
Jetzt weiß ich fast alles, dachte sie, und was habe ich davon? Selbst wenn ein Wunder geschieht und ich hier rauskomme, werde
ich nichts beweisen können. Ich begreifenicht, wieso Regina Gradskaja ein solches Risiko eingegangen ist. Wozu? Ist sie Wenja Wolkow so sehr verfallen? Oder wollte
sie das Ungeheuer zähmen, um mit seiner Hilfe schön und reich zu werden? Eine plastische Operation in einer Schweizer Klinik
kostet natürlich Unsummen. Aber sie hat doch genug Grips und Energie, sie hätte sich das Geld selber verdienen können, ohne
die Hilfe dieses Monsters.
Und Mitja Sinizyn? Warum hat er erst vierzehn Jahre später zu reden begonnen? Und dann ausgerechnet mit Wolkow selbst! Er
muß eine Ahnung, einen vagen Verdacht gehabt haben, aber wohl kaum konkrete Beweise. Was hätte ich an Mitjas Stelle gemacht?
Im übrigen bin ich ja jetzt an seiner Stelle. Als er zu Wolkow ging, wußte er weniger, als ich jetzt weiß. Aber was nützt
mir das? Ich bin eingesperrt und weiß noch nicht einmal, wo.
Lena war schon fast eingeschlafen, als sich die Tür öffnete und zwei jugendliche Gorillas erschienen.
»Steh auf, wir gehen«, sagte der eine zu ihr.
Lena zog die Stiefel an und schlüpfte in ihre Jacke.
Sie führten sie durch einen halbdunklen Korridor, in dem sie außer ein paar geschlossenen Türen nichts erkennen konnte. Dann
stiegen sie über eine niedrige Holztreppe in den ersten Stock. Gleich darauf stand Lena in einem großen Wohnzimmer. Auf dem
Boden lag ein heller Wollteppich, in
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