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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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nicht in den Sinn gekommen, am Altersheim eine besondere Wache aufzustellen. Es hätte sowieso
     niemand gewagt, dort aufzutauchen. Wer sollte sich auch schon für den alten Tattergreis interessieren? Außer ihm wohnte in
     diesem Heim gerade mal ein knappes Dutzend alter Leutchen, unter ihnen übrigens auch die Mutter von Regina Gradskaja.
    Aber Locke hatte keine Zweifel – das lästige Dreigespann wollte zu seinem Vater. Beide zu entführen, die Journalistin und
     den Amerikaner, hätte zu viele Scherereien gemacht. Außerdem war es sowieso besser, sich den Ausländer vom Hals zu halten.
     Die Journalistin genügte vollauf. Sollte sie ihm alles erklären!
    Durch seine Leute in Moskau hatte er bereits einige Informationen über dieses Weib erhalten. Daß sie die Ehefrau eines Obersten
     aus dem Innenministerium war, beunruhigte Locke keineswegs, im Gegenteil, es war ihm sogar angenehm.
    Die zum Altersheim entsandten Männer hielten ständigen Kontakt zu ihm. Um halb zehn meldeten sie: Der FSB-Mann ist mit dem
     Amerikaner zusammen weggefahren. Locke befahl, ihnen zu folgen, sie jedoch nicht anzurühren, sondern nur zu beobachten. Es
     ließ sich alles recht gut an. Er bedauerte schon, daß er wegen dieses Weibsbildes so viele Leute eingesetzt hatte. Doch es
     sollte sich noch zeigen, daß er richtig gehandelt hatte.
    Fast gleichzeitig entdeckten die Männer, die die Chaussee beobachteten, den Wagen des FSB und die, die im Gebüsch am Eingang
     warteten, einen Unbekannten, der auf der anderen Straßenseite ebenfalls im Gebüsch saß. Klar, daß er dort nicht seine Notdurft
     verrichtete. Später stellte sich heraus, daß er ein Major des FSB war. Der Mann, der ihn erledigt hatte, fand entsprechende
     Papiere in seinen Taschen.
    Die Lage spitzte sich zu. Man mußte sich blitzschnell etwas einfallen lassen. Und Locke hatte einen Einfall. Einer der drei
     Wagen, den er für diese Aktion eingesetzt hatte, war ein uralter Wolga. Locke befahl seinen Jungs, den Wolga an den Straßenrand
     zu fahren und ihn vor den Augen des erstaunten Publikums mit viel Getöse in die Luft zu jagen. Währenddessen konnte man die
     Journalistin in aller Ruhe und ohne überflüssiges Geballer fortbringen. Wichtig war nur, daß alles zeitlich genau paßte.
    Seine Jungs lieferten eine erstklassige Vorstellung ab. Eine kleine Schießerei gab’s allerdings doch. An der Kreuzung stellte
     sich ein Patrouillenwagen der Miliz dem Lada in den Weg.
    »Wie viele von unseren Leuten haben sie auf der Chaussee umgelegt?« fragte Locke aufgeregt, als er von der Schießereierfuhr – nicht mehr über Funk, sondern von einem seiner Männer, einem früheren Major und Fallschirmspringer, der jetzt bei
     Locke in Dienst und Brot stand, halb als sein persönlicher Sekretär, halb als graue Eminenz.
    »Niemanden«, erwiderte der Ex-Major fröhlich. »Der Lada hat einen guten Motor. Die Jungs sind auf einen Feldweg abgebogen
     und dann in der Taiga untergetaucht.«
    »Ist jemand verwundet?«
    »Nichts von Bedeutung, Chottabytsch ist schon dabei, die Kugel rauszuklauben.«
    »Na prima«, sagte Locke. »Wie steht’s in Moskau?«
    »Morgen früh haben wir die Kassette.«

Kapitel 35
    Im Traum sah er leuchtende, bunte Bilder, und er wollte nicht aufwachen. Früher waren seine Träume nur schwarzweiß und deprimierend
     gewesen.
    Er sah sich als kleinen, von den Eltern zärtlich geliebten Jungen. Seine Mutter strich ihm mit der kühlen, leichten Hand über
     das Haar, gab ihm einen Gutenachtkuß, las ihm Märchen vor. Sein Vater war stark und fröhlich, er lehrte ihn, durch die Taiga
     zu gehen, die festen Erdhügel im sumpfigen Boden zu finden, Kessel aus duftender Birkenrinde zu machen und darin über dem
     Lagerfeuer Wasser zu kochen.
    Sein Traum war voller Licht und Wärme. Purpurrot leuchteten die Moosbeeren der Taiga in der Sonne und erinnerten überhaupt
     nicht an Blutstropfen. Die kleine dunkelhaarige Nachbarin Lara kam mit klappernden Absätzen die Treppe heruntergelaufen, auf
     dem Gesicht ein strahlendes Lächeln. Die sechzehnjährige Tanja Kostyljowa schwamm ans Ufer des ruhigen nächtlichen Flusses,
     schüttelte ihr langes nasses Haar und streifte, vor Kälte zitternd, ihr Kleid über den feuchten Körper.
    »Wenja, ich bin ganz durchgefroren! Warum hast du mich zum Baden überredet?« flüsterte sie und schmiegte ihre Stirn an seine
     Brust.
    Tanja Kostyljowa lebte, sie war jetzt vierzig, wie er. Auch die anderen sechs Mädchen waren am Leben. Wenja

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