Die Leidenschaft des Cervantes
Unter der Anleitung des Paters schloss er seine Studien für das quadrivium ab. In einem Jahr würde er bereit sein, meine alma mater zu besuchen, die Universität Cisneriana in Alcalá de Henares, wo er als einer der jüngsten, wenn nicht gar der jüngste Student überhaupt von sich reden machen würde. Diego war immer ein Einzelgänger gewesen, es hatte ihn nie nach der Gesellschaft anderer Jungen seines Alters verlangt. Die Welt jenseits der Mauern unseres Hauses hatte für ihn nichts Verlockendes. Ich fragte mich, wie es ihm wohl ergehen würde, wenn er an der Universität mit Gleichaltrigen in Kontakt kam.
Dass mein Sohn allmählich das Interesse verlor, abends mit mir Gedichte zu lesen, war für mich eine große Enttäuschung. Vielmehr war er dem Bann des Nachthimmels und der Sterne erlegen und hatte sich die Gewohnheiten eines nachtaktiven Lebewesens angeeignet. Wenn es nicht gerade bewölkt war oder regnete, saß Dieguito jede Nacht mit dem Sehrohr an seinem Fenster, wo er sich bis zum Morgengrauen mit den Ereignissen am Himmel beschäftigte.
Eines grämte mich. Obwohl sich La Galatea als abgrundtiefer Misserfolg erwiesen hatte, konnte ich Miguel nicht mehr als Möchtegern-Autor bezeichnen. Ich andererseits war lediglich ein hochrangiger Beamter der Krone.
Vielleicht, um die Leere zu füllen, die entstanden war durch den Verlust der mir so kostbaren Stunden, die Diego und ich früher gemeinsam verbracht hatten, keimte in mir zum ersten Mal seit fast zwanzig Jahren der Wunsch, einen Roman zu schreiben. Ich würde, seiner Popularität zum Trotz, keinen Schäferroman schreiben. Auch der Ritterroman nötigte mir keine Bewunderung ab. Und die von den Figuren des pikarischen Romans bevölkerte Welt war mir fremd – fern lag mir der Wunsch, die Abgründe unserer Gesellschaft zu erforschen und über Menschen zu schreiben, die mein Empfinden beleidigten. Während meiner Tage als Student am Estudio de la Villa, hatte ich, nachdem ich Miguel de Cervantes und seine Familie kennengelernt hatte, eine Weile erwogen, eine Geschichte über einen verschwendungssüchtigen Träumer zu schreiben, der seine Familie durch seine fantastischen Pläne in den Ruin treibt. Die Inspiration zu dieser Figur hatte mir Miguels Vater Don Rodrigo geliefert, der mit seinen hochfliegenden Unternehmungen einen bestimmten Typ Spanier verkörperte. Vielleicht sollte ich, da der Quell meiner Dichtung offenbar für immer versiegt war, versuchen, meine alte Idee umzusetzen. Nachdem ich keine Erfahrung mit dem Verfassen von Prosa hatte, begann ich damit, eine Liste der Hauptfiguren, die ich schildern wollte, zu entwerfen: der verantwortungslose Don Rodrigo, seine leidgeprüfte Ehefrau Doña Leonor, eine Frau aus guter Familie, die sich vergeblich abmüht, ihren Mann und ihre männlichen Kinder in die Wirklichkeit zurückzuführen, und Andrea, die Tochter, deren Indiskretion große Schande über die Familie bringt. Mit dem Abstand der vielen Jahre erkannte ich mit aller Klarheit, dass Miguel und sein Vater lediglich zwei Seiten derselben Münze waren: Träumer, die bei allem, was sie in die Hand nahmen, versagten, gescheiterte Existenzen, die nicht aufhören konnten zu träumen.
Monate verstrichen, ohne dass sich etwas ereignete, bis mir im Winter 1586 ein Umschlag mit dem Siegel des Kardinals von Toledo zugestellt wurde. Es war ein Brief von Seiner Eminenz – in schönster gebrochener Schrift auf dickes, glattes, goldfarbenes Papier geschrieben –, der mich in Anerkennung meiner »außerordentlichen Liebe zur Kirche« zum Anklagevertreter der Inquisition ernannte. In der hierarchischen Pyramide der Beamten der Inquisition, so rief der Kardinal mir ins Gedächtnis, stand diese Position an vierter Stelle. Meine Hauptaufgabe als Anklagevertreter des Heiligen Offiziums, fügte Seine Eminenz hinzu, bestehe darin, Ermittlungen über die Ketzer zu leiten, die schwerster Verstöße gegen unsere Religion angeklagt waren, und meine Ergebnisse dem Großinquisitor persönlich zu unterbreiten. Will Gott, dass ich auf diese Art Abbitte für meine Sünden leiste?, fragte ich mich. Ist das die beste Möglichkeit, Ihm zu dienen – unseren Glauben zu verteidigen, zu schützen und Krieg gegen die Ketzer, die Juden und die Jünger des Teufels zu führen? Kam ich auf die Welt, um Soldat in Seiner göttlichen Armee zu werden? Dann ging mir ein anderer Gedanke durch den Kopf: Es konnte der Tag kommen, an dem ich, wenn Miguel de Cervantes mein Wohlergehen erneut
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