Die Leidenschaft des Cervantes
Insassen des bagnio , sondern auch die moriscos und mudéjares , die jetzt Bürger Algiers waren, und die spanischen Kaufleute, die eine Konzession hatten, um im Hafen Geschäfte zu betreiben. Auf den Straßen spanische Worte zu hören, war wie eine Oase für mich. Einen Moment konnte ich glauben, meine Heimat läge näher, als es tatsächlich der Fall war. Manchmal stellte ich mich in die Nähe von Leuten, die sich auf Kastilisch unterhielten, nur um die schönen Klänge unserer Muttersprache zu hören. Nie hatte die Sprache Garcilasos und Jorge Manriques lieblicher in meinen Ohren geklungen. Ich gewöhnte mir an, auf diese Leute zuzugehen und sie zu fragen, ob sie wüssten, wo ein gewisser Rodrigo Cervantes lebte. Ich beschrieb das Aussehen meines Bruders, aber niemand konnte mir bei meiner Suche weiterhelfen. Hin und wieder machte ein pícaro Andeutungen, er könnte möglicherweise etwas wissen, bräuchte aber eine Goldmünze, um sein Gedächtnis aufzufrischen.
Jeden Abend, bevor ich mich den unruhigen Schatten meines nächtlichen Schlafs überließ, galt mein letzter Gedanke dem Wunsch, Rodrigo zu finden, und der erste Gedanke, der mir in den Kopf kam, wenn meine Augen die Morgendämmerung begrüßten, galt ebenfalls ihm, und der einzige Gedanke, der den Stunden des Tages etwas Farbe verlieh, war die Überlegung, wann ich meinen Bruder wohl wiedersehen würde. Rodrigo zu finden und mit ihm aus Algier zu fliehen wurde zu meinem einzigen Daseinsgrund. Ich war bald dreißig Jahre alt und hatte meiner Familie nichts als Schande gemacht. Wenn ich nach Spanien zurückkehrte – und es war keine Frage des bedingenden falls , sondern des zeitlichen wenn –, dann nicht als glorreicher, wohlhabender Held, wie ich es vor Jahren erträumt hatte, sondern als Krüppel. Meine Wiedergutmachung würde darin bestehen, dass ich meinen Bruder befreite und ihn wohlbehalten zu meinen Eltern zurückbrachte. Ich würde alles tun, was in meiner Macht stand, damit ihr Leben nicht in dem Wissen endete, dass ihre beiden Söhne Sklaven waren.
Ewig in der Hoffnung, etwas über Rodrigo zu erfahren, streifte ich durch die dunklen Gassen der casbah , sprach jeden an, der wie ein Spanier oder ein morisco aussah, blieb an allen Ständen im souk stehen, an denen Spanisch oder Italienisch gesprochen wurde, und erkundigte mich nach ihm. Es kümmerte mich nicht, dass mein Bart lang und meine Kleider dreckig waren, dass mich mein eigener Körpergeruch abstieß, dass meine Füße stets geschwollen und voller Blasen waren vom unermüdlichen Gehen und oft bluteten, wenn ich bei Sonnenuntergang ins bagnio zurückkehrte.
Ich musste einen Weg finden, meiner Mittellosigkeit zu entkommen, damit ich Tinte und Papier kaufen und meiner Familie und meinen Freunden schreiben konnte, dass Rodrigo und ich noch am Leben waren. Vielleicht stand ja Rodrigo in Korrespondenz mit unserer Familie, aber das wusste ich nicht. Es quälte mich, dass die ausbleibenden Nachrichten über unser Schicksal meinen Eltern sicher großen Kummer bereiteten. Geld zu beschaffen wurde mein vordringlichstes Ziel – nur Geld konnte mir helfen, eventuell etwas über Rodrigos Verbleib zu erfahren. Eines Nachts schlief ich gerade ein, als Sancho sagte: »Miguel, falls es Euch entgangen sein sollte, die Nächte werden sehr kühl. In ein paar Wochen wird Euch das Blut in den Adern gefrieren und Eure Knochen werden zu Eis, wenn Ihr weiterhin mit dem Himmel als Dach über Euch schlaft. Wenn ich so ungehörig sein und jemandem derart Gebildeten wie Euch, einem Dichter und Hidalgo , der die Welt gesehen und für den Ruhm Spaniens gekämpft hat, einen Rat geben darf: Wenn Ihr Euch heute nicht um Euch selbst kümmert, mein junger Freund, werdet Ihr morgen nicht mehr am Leben sein, um Euren Bruder zu finden, ganz zu schweigen davon, mit ihm aus Algier zu fliehen. Wie mein alter Herr, der Graf von Ordoñez, zu sagen pflegte: Carpe diem . Dem möchte ich hinzufügen – denn zwei Sprichwörter halten besser als eines: Mit Harren und Hoffen hat’s mancher getroffen.«
Ich dankte Gott, dass er mir Sancho in den Weg gestellt hatte. Obwohl er weder lesen noch schreiben konnte, brachte er mir viele Wörter und Ausdrücke der lingua franca bei, die in diesem Babel gesprochen wurden. Bald wuchs mein Vertrauen in meine Grundkenntnisse der Umgangssprache in Algier. Ich redete mit jedem, der vermögend aussah, und bot ihm meine Arbeitskraft als Diener an. Die Not machte mich schamlos: Ich klopfte an jede
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