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Die Leidenschaft des Cervantes

Die Leidenschaft des Cervantes

Titel: Die Leidenschaft des Cervantes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaime Manrique
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nur noch lauter. Gleichgültig, wie viele man erschlug mit dem Besen oder jedem anderen Gegenstand, mit dem man sie gegen die Wand, auf den Fußboden oder die gepflasterten Straßen quetschen konnte, die Heuschrecken schienen sich immer weiter zu vermehren. Ich gab es auf, schlafen zu wollen, streifte benommen umher und betete zu Gott, er möge sich meiner erbarmen, damit ich bald bei Zoraida wäre. Niemand konnte schlafen, niemand konnte ruhen, nirgends konnte man der Plage entkommen.
    Die Einwohner Algiers waren am Ende ihrer Kräfte angelangt und fanden sich mit dem Gedanken ab zu sterben, als eines Nachts ein Sturm aus den Tiefen Afrikas stundenlang durch die Stadt fegte. Am nächsten Morgen sah es aus, als seien alle Heuschrecken im Meer begraben worden. Vor ihren Häusern sanken Algerier auf die Knie und dankten Allah, dass er ihrer Pein ein Ende gesetzt hatte.
    Die Welt, in der wir aufwachten, war bar jeder Farbe: Die grünen Berge hinter der Stadt waren kahl wie die Wüste, nackt wie die Steine, das Laub aller Bäume und aller Sträucher, alle Blumen in den Gärten, alle Früchte in den Obsthainen, alle Kräuter, ob wild oder in Töpfen, waren abgefressen.
    Jeder freute sich, noch am Leben zu sein. Ein paar Tage herrschte in der Stadt ein Gefühl von Brüderlichkeit. Menschen gaben ihren Feinden die Hand, Fremde umarmten sich und weinten an des anderen Schulter über ihren Verlust, aller Hass war vergessen und wurde durch Akte der Freundlichkeit und Güte ersetzt. Jeder, der das Glück besaß, ein Stück Brot zu haben, brach es entzwei, um es mit einem Hungrigen zu teilen.
    Aber es gab in ganz Algier kein Trinkwasser mehr. In Scharen strömten die Menschen in die Berge, um Wasser aus den eisigen Quellen zu schöpfen, die das Tal bewässerten. Wer zu alt oder zu krank war, um Wasser zu holen, trank aus dem Meer und starb schreiend, mit aufgequollenem Bauch, am ganzen Körper verkrümmt. Andere tranken Olivenöl, nahmen eine jadegrüne Farbe an und starben, während ihre Poren grünes Öl schwitzten. Ich überlebte, indem ich meinen eigenen Urin trank.
    Und es gab in der Stadt nichts zu essen. Die Kornspeicher der Wohlhabenden quollen über mit Rüsselkäfern, Nagetieren und verfaultem Weizen. Mütter taumelten mit wildem Blick durch die Straßen, offenbarten ihre abgemagerten Säuglinge dem Himmel und flehten Allah an, er möge die Unschuldigen von dem Übel erlösen, das das Land befallen hatte. Manche überlebten, indem sie die unverdauten Körner aus den noch dampfenden Haufen von Kamel- und Eselsdung klaubten. Sie folgten den Tieren, um deren Pisse zu trinken, und dann töteten, vierteilten und aßen sie sie. Alle Katzen verschwanden aus der Stadt. Ich sah Mütter ihre Kinder an Menschen verkaufen, die sie zum Verzehr erwarben. Kannibalismus wurde eine gängige Praxis. Ich sah, wie Menschen enthauptet wurden, damit die Durstigen trinken konnten. Die Menschen verloren ihre menschliche Gestalt, ihre Augenhöhlen wurden groß wie Hühnereier. Hyänen und Schakale zogen durch die casbah , um von den Sterbenden und Toten zu fressen. Die wilden Tiere verloren ihre Furcht vor den Menschen, die gesättigten Löwen machten sich nicht mehr die Mühe, Beute zu erlegen.
    Hassan Paschas Schiffe waren von dem Angriff auf Malta nicht zurückgekehrt. Die Nachricht, dass die Flotte des Beylerbey besiegt und er von den Italienern gefangengenommen worden war, verbreitete sich wie Feuer in trockenem Holz. Angst machte sich breit, die europäischen Mächte würden die geschwächte Stadt erobern und sie einnehmen, ohne auf Widerstand zu stoßen.
    Eines Morgens gingen Wachposten durch das bagnio und verkündeten den überlebenden Sklaven, Arnaut Mamí mache seine Schiffe bereit, um nach Konstantinopel zu segeln. Die Sklaven, die in die Türkei verschleppt wurden, kehrten nie mehr auf christlichen Boden zurück, man hörte nie mehr von ihnen. Ich hatte allen Lebensmut verloren und war bereit, mich meinem Schicksal zu ergeben.
    Am 10. Oktober 1580, kurz bevor das Schiff ablegte, das mich von der Stadt, in der ich das größte Elend und die größte Not erfahren hatte, nach Konstantinopel bringen sollte, kam eine Gruppe Dominikanermönche mit dem Lösegeld für mich an Bord. Sie waren gerade eingetroffen, als die Heuschrecken weiterzogen. Mamí ließ mich bereitwillig gehen: Mein Körper war der eines gebrechlichen alten Mannes, ich war als Arbeitskraft unbrauchbar und hatte ihm allzu viel Ärger bereitet. Mamí nahm das

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