Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Leidenschaft des Cervantes

Die Leidenschaft des Cervantes

Titel: Die Leidenschaft des Cervantes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaime Manrique
Vom Netzwerk:
so viel wie den Lyrik-Liebhabern meiner Generation. Da mein Sohn die noch lebenden Dichter bevorzugte, lasen wir einige von ihnen in Manuskripten. Unser Liebling war San Juan de la Cruz. Diego prägte sich viele Gedichte seines überschaubaren, aber erhabenen Schaffens ein und trug sie mit derartig großem Gefühl vor, dass er mich oft zu Tränen rührte. Auch die Gedichte von Hernando de Acuña, der sich als Soldat in Afrika und in europäischen Schlachten ausgezeichnet hatte, begeisterten uns. Am besten gefiel uns das »Sonett in Antwort auf die Vergangenheit«. Immer wieder lasen wir die beiden Terzette, ohne ihrer je überdrüssig zu werden:
    Und wenn das menschliche Dasein Glück birgt,
    so ist es nicht recht, dass niemand verzweifle,
    denn seiner Wandlung ist alles unterworfen;
    doch an der Abhilfe Zweifel
    leidet nicht, mein Herr, wer so wäre,
    wie wir Euch wissen, machtvoll und bescheiden.
    Wir bewunderten auch den Dichter Baltasar del Alcázar aus Sevilla, dessen Werk stark von Petrarca beeinflusst war. Und wir begeisterten uns für die Gedichte von Lope Félix de Vega Carpio, die in Madrid als Manuskript die Runde machten. Auch Fray Luis de Leóns Werk war nur in Manuskriptform bekannt. Diego und ich lasen Fray Luis immer wieder, ebenso, wie ich in meiner Jugend Garcilasos nie überdrüssig geworden war. Wir liebten seine subversive Verwendung des Horaz’schen Versbaus und waren entzückt ob seiner Verachtung für das höfische Leben und die Zerstreuungen der Städte. Seit meinen Jugendtagen, als Miguel und ich uns in der Leidenschaft für den unsterblichen Barden aus Toledo gefunden hatten, hatte ich keinen Menschen mehr gekannt, mit dem ich mich an der Liebe zur Dichtkunst erfreuen konnte. Dass ich diese Liebe mit meinem Sohn, einem bloßen Knaben, teilte, machte sie umso süßer.
    Diego und ich gaben uns Fantasien über die nicht allzu ferne Zukunft hin, wie wir ein schlichtes, reines Leben in einer pastoralen Umgebung führen würden. Eines Tages las ich Diego eines meiner liebsten Gedichte von Fray Luis vor:
    Erwachen möchte ich
    vom naturschönen Sang der Vögel,
    von schweren Sorgen frei:
    Sie bedrücken stets,
    wer fremdem Willen folgt.
    Wie ruhig, beschaulich ist ein Leben
    fern vom Treiben der Welt,
    folgt man dem verborgnen
    Pfad, ihn nahmen nur
    wenige Weise in der Welt.
    Da wurde mir die Kehle eng. Ich legte das Manuskript auf den Tisch, an dem wir saßen.
    »Warum habt Ihr aufgehört, papá ?«
    »Es tut mir leid, Diego. Aber diese Strophen von Fray Luis rufen mir die glücklichen Tage meiner frühen Kindheit in Erinnerung, als ich den Sommer bei meinen Großeltern in Toledo verbrachte und papá Carlos bei den Besuchen auf seinen Ländereien begleitete.«
    Dieguitos Augen verschleierten sich. »Was ist, mein Sohn?«, fragte ich.
    Er schüttelte den Kopf, wischte die Tränen mit dem Handgelenk fort und sagte dann: »Bitte lest weiter, papá .«
    Diego hatte zu meiner großen Erleichterung schon vor Jahren aufgehört, im Schlaf zu weinen. Wie zur Wiedergutmachung seines früheren Verhaltens hatte er seitdem keine Träne mehr vergossen. Umso mehr erschreckte mich jetzt sein Weinen. »Wenn dich etwas bedrückt – vergiss nicht, zwischen uns gibt es keine Geheimnisse.«
    »Ich möchte Euch nicht bekümmern, papá . Aber Fray Luis’ Gedicht erinnert mich an Mutter. Auch sie hat sich ein Leben fern vom Treiben der Welt gewünscht, wie der Dichter es sagt. Stimmt das nicht?«
    Zum ersten Mal, seit seine Mutter das Haus verlassen hatte, erwähnte er sie mir gegenüber.
    »Doch, das hat sie«, sagte ich.
    In einer Ecke meines Schreibtisches lag immer ein Gedichtband, und darin las ich jeden Tag – eine Unterbrechung von den vielen Stunden, die ich auf die nüchternen Geschäfte des Königlichen Indienrats verwendete. Eines Nachmittags, als ich mich gerade in Die Werke des Garcilaso de la Vega, mit Anmerkungen versehen von Fernando de Herrera vertieft hatte, klopfte es an meiner Tür. Ich schaute von meiner Lektüre auf und sagte: »Herein«. Mein Gehilfe Pascual Paredes trat ein. Diese Tageszeit war mir heilig, und das wusste er auch.
    »Ich würde Euch nicht belästigen, Euer Gnaden, aber es sind einige Dokumente gekommen, die Eurer sofortigen Aufmerksamkeit bedürfen.«
    »Er kann sie auf den Schreibtisch legen.« Ich wollte mich wieder meiner Lektüre zuwenden.
    Pascual rührte sich nicht vom Fleck. Soeben wollte ich ihn tadeln, als er begehrlich auf den Bucheinband deutete und sagte: »Ein

Weitere Kostenlose Bücher