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Die Leidenschaft des Cervantes

Die Leidenschaft des Cervantes

Titel: Die Leidenschaft des Cervantes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaime Manrique
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hatte, sie zu versuchen und zu verführen, bevor sie die notwendige Reife erlangt hatten? War dann nicht Satan der Schuldige?‹ Um diese unnütze Diskussion zu beenden, die sich zum Nachteil seiner Studien endlos hätte hinziehen können, sagte ich, dass viele sehr kluge Männer derartige Fragen jahrhundertelang erörtert hätten und dass er später, wenn er verständig genug sei und immer noch Interesse daran habe, die theologischen Argumente der Kirchenväter lesen könne. Mit dem Vorschlag gab er sich zufrieden.«
    Erleichtert seufzte ich auf. »Dann hat sich alles ja gut gefügt, Pater.«
    »Im Gegenteil, Don Luis. In letzter Zeit spricht Diego immer wieder von der Geschichte des Judas Ischariot.«
    »Heißt das, dass mein Sohn ein Kirchenphilosoph werden wird? Dass er wie Ihr zum Priester bestimmt ist, Pater?«
    »Das weiß ich nicht, Euer Gnaden. In seinem Alter quälten mich, meiner großen Liebe zu Unserem Erlöser Jesus Christus zum Trotz, keine Fragen dieser Art. Ich war gewiss kein Ungläubiger Thomas.«
    Trotz der Ruhe in seiner Stimme entnahm ich den Worten Pater Jerónimos eine gewisse Missbilligung. Die Sache war gravierender, als ich gedacht hatte.
    »Ich möchte Eure huldvolle Gastfreundschaft nicht über Gebühr beanspruchen, Euer Gnaden, doch ich gebe Euch ein letztes Beispiel. Kürzlich fragte er mich: ›Wenn in der Heiligen Schrift geschrieben steht, dass Christus verraten werden würde, war dann Judas Ischariot nicht dazu bestimmt, Jesus zu verraten? War es nicht eigentlich ungerecht gegenüber Judas, ihn zum Verräter unseres Herrn zu erwählen? Wenn geschrieben stand, dass einer der Jünger Jesu ihn verraten würde, warum sollte Judas dann dafür bestraft werden?‹ Ich frage mich«, fuhr Pater Jerónimo fort, »ob derartige Überlegungen in so jungen Jahren nicht seinen Geist verwirren und zu Arroganz und einem Mangel an Demut führen werden. Schlimmer noch, sie könnten ihm auch den blinden Glauben nehmen, der von uns verlangt wird. Wie Ihr wisst, Don Luis, der Glaube bedarf keiner Beweise, sonst wäre es kein Glaube.«
    Die Sache stimmte mich nachdenklich. Ich machte mir Sorgen, mein altkluger Dieguito könnte als Eremit in einer Höhle enden und Tag und Nacht beten. War das möglicherweise eine natürliche Reaktion auf Mercedes’ Frömmigkeit? Ich hoffte, dass er dieser Eigenart, wie schon seinem nächtlichen Weinen, das abrupt aufgehört hatte, von selbst entwachsen würde.
    »Ich stimme mit Euch überein, dass Diego sich nicht mit derartigen morbiden Fragen quälen sollte, Pater. Bitte sagt mir, was ich tun soll.«
    »Ich empfehle Euch, solange die Situation sich nicht verschlimmert, momentan gar nichts zu tun«, sagte er. »Er ist in dem Alter, in dem wissbegierige Kinder, die mit übergroßer Intelligenz und Klugheit gesegnet sind, solche Fragen zu stellen pflegen. Warten wir ab. Womöglich überwindet er diese Phase ohne weiteren Schaden. Allerdings sollten wir gewahr sein, Don Luis, dass sein Denken zum Spielplatz des Teufels werden könnte. Wir müssen ihn beide aufmerksam beobachten.«
    Bald nach dieser Unterredung mit seinem Lehrer bat Diego mich um ein Sehrohr, um den Nachthimmel zu studieren. Vielleicht würde das die nötige Ablenkung von seinen melancholischen theologischen Erörterungen darstellen. Zu meiner Freude verfolgte er schon wenig später an klaren Nächten von seinem Zimmerfenster aus die Gestirne. Das konnte ihm kaum zum Schaden gereichen.
    Offenbar hatte sich die Muse der Poesie von mir abgewandt. Meine Pflichten als Diener der Krone hinderten mich daran, mein Leben der Dichtkunst zu weihen, und wenn ich bisweilen einige Strophen zu Papier brachte, waren sie tot geboren, als erfreute die Muse sich daran, mich meiner Gabe zu berauben. Ich hingegen erwies ihr weiterhin meine unsterbliche Liebe, indem ich mit Hingabe die neuen Gedichtbände las, die in Madrid in den Läden auslagen.
    Diego war ein echter Spross unserer Vorfahren aufseiten der Laras: Er liebte die Poesie. Nachdem Mercedes fort war, machten wir es uns zur Gewohnheit, einander abends nach dem Essen vorzulesen. Diese gemeinsam verbrachten Stunden waren inmitten der alltäglichen Pflichten eine Oase und eine Opfergabe an die Göttin, um ihren Zorn zu besänftigen. Ich hatte alle Hoffnung aufgegeben, jemals ein Dichter zu werden, aber vielleicht würde mein Sohn zu einem großen Barden Spaniens heranwachsen.
    Obwohl Diego Garcilaso würdigen konnte, bedeutete der geliebte Dichter meiner Jugend ihm nicht

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