Die Leidenschaft des Cervantes
geworden war. Man leitete Ermittlungen ein, doch die Vorwürfe wurden fallen gelassen, als vorgeblich achtbare Christen Miguels untadeliges Verhalten bezeugten. Dann reiste Pater Juan nach Nueva España. Ohne ihn müsste ich in Madrid selbst eine Untersuchung einleiten – das würde ein Vermögen kosten und mich auf Jahre hinaus beschäftigen. Mit welcher Begründung könnte ich mein Interesse rechtfertigen, dass das Heilige Offizium sich mit Miguel de Cervantes befasste? Kirchenmänner könnten meine Motive hinterfragen. Im Grunde meines Herzens wusste ich, dass ich von Miguel und Mercedes nur befreit sein würde, wenn ich ihnen vergab. Ich musste beten, beten und noch mal beten, bis Gott sich meiner erbarmte und mich von meiner Pein erlöste.
Obwohl Mercedes und ich seit Langem getrennte Leben geführt hatten, merkte ich erst nach ihrem Auszug, wie still und düster es im Lauf der Jahre in unserem Haus geworden war. Jetzt wurde Leonela Hausherrin, und ihre Hand machte sich überall bemerkbar: Schöne Blumenarrangements erhellten die Räume, der zarte Blütenduft vertrieb den muffigen Geruch, der sich wie ein von Motten zerfressenes Leichentuch über alles gelegt hatte. Ich hatte vergessen, wie es war, wenn in einem Haus Lachen erklang. Jetzt hörte ich, wie die Dienstmädchen kicherten und dreiste Lieder summten, während sie im Haus ihrer Arbeit nachgingen.
Ich traute Leonela nicht; ich wusste, ihre Ergebenheit galt allein Mercedes. Aber sie war Diego wie eine Taufpatin, und in Abwesenheit seiner Mutter gab sie dem Jungen die mütterliche Fürsorge, die er brauchte. Ich war überzeugt, dass meinem Sohn seine Mutter sehr fehlte. Sie hatte ihn vergöttert und, wenn er nicht gerade in seine Studien vertieft war, viel Zeit mit ihm verbracht. Es wäre unmöglich, ihm zu erklären, weshalb sie uns verlassen hatte, ohne ihm allzu viele hässliche Einzelheiten zu erzählen. Ich wollte nicht, dass Diego mit Hass auf seine Mutter aufwuchs. Leonela würde in meinen Diensten bleiben, bis er zur Universität ging.
Auf die ersten Anzeichen einer Verstörung Diegos machte mich ein Gespräch mit seinem Lehrer aufmerksam. Pater Jerónimo und ich hatten es uns zur Gewohnheit gemacht, uns mindestens einmal im Monat auf ein Trankopfer zusammenzusetzen, um die Fortschritte in der Bildung meines Sohns zu erörtern.
»Don Luis«, sagte er, »bislang war Diego ein mustergültiger Schüler. Er war immer aufgeweckt, klüger, als es in seinem Alter üblich ist, und ein Ausbund an Gehorsam. Die Tatsache, dass es nie Grund zur Beschwerde über ihn gab, macht sein Verhalten in letzter Zeit umso beunruhigender.«
»Hat er Euch nicht die nötige Achtung erwiesen, Pater? Wenn das der Fall ist, dann dulde ich das nicht. Ich werde dafür sorgen, dass er sich bei Euch entschuldigt und sich Euch gegenüber nie mehr unziemlich verhält.«
Pater Jerónimo nahm einen kleinen Schluck von der schaumigen Schokolade, die sein Lieblingsgetränk war, und tupfte sich mit der Ecke seines Taschentuchs den Schaum von den Lippen. »Don Luis, ich fürchte, was in letzter Zeit passiert, ist weit schlimmer als das. Diego hat sich meiner Anweisung widersetzt, die Heilige Schrift nicht ohne meine Aufsicht zu lesen. Trotz seiner großen Intelligenz – und er ist der klügste Schüler, den ich je unterrichtet habe – ist er besessen von theologischen Diskussionen über den Willen Gottes, wie sie kein Junge seines Alters führen sollte.« Mein Gesicht muss meine Neugier zum Ausdruck gebracht haben. »Euer Gnaden, ich gebe Euch ein Beispiel. In letzter Zeit ist er besessen – ja, besessen – von der Ursünde.« Pater Jerónimo stellte seinen Becher auf den Tisch und verschränkte die Hände auf dem Schoß, als würde er beten. »Kürzlich fragte Diego mich: ›Pater, stimmt es nicht, dass es, wenn Adam und Eva nicht von der verbotenen Frucht gegessen hätten, keine Menschen geben würde?‹ Ich erklärte ihm, wir müssten davon ausgehen, dass es Gottes Plan gewesen sei, Adam und Eva zu gestatten, Mann und Frau zu werden, wenn sie einmal die notwendige Reife erlangt hatten. Ich fügte hinzu, dass die Sünde, die sie begangen hatten, die des Ungehorsams war. Meines Erachtens war dies eine durchaus zufriedenstellende Antwort.«
»Eine sehr gute Antwort«, sagte ich.
»Ich wünschte, damit wäre die Sache erledigt gewesen, Euer Gnaden. Doch Diego hatte noch weitere Fragen. ›Warum hat Gott Adam und Eva dann aus dem Paradies vertrieben, wenn Satan die Erlaubnis
Weitere Kostenlose Bücher