Die leise Stimme des Todes (German Edition)
und sich im Augenblick beschissen fühlte.
Ein Blick auf die Uhr erinnerte ihn daran, dass die Zeit unerbittlich verstrich. Er befeuchtete seine Hände und strich sich Gel in sein dunkelbraunes Haar. Sein Anblick wurde dadurch nicht besser, aber zumindest war er so weit wiederhergestellt, dass er das Haus verlassen konnte.
Als er die Treppe hinunter stürmte, öffnete sich die Tür der darunter liegenden Wohnung. Das misstrauische Gesicht von Frau Hagen, seiner siebzigjährigen Nachbarin, schob sich aus dem Spalt. Ihre zugekniffenen Wieselaugen fixierten ihn.
„Herr Keller, können Sie nicht einmal die Treppe hinuntergehen, ohne einen derartigen Krach zu machen?“, fragte sie.
„Tut mir leid, war keine Absicht. Es ist nur so ...“
„Was?“, unterbrach sie ihn.
„... dass ich es eilig habe.“
„Herr Keller, als Mieter hat man nicht nur Rechte, sondern auch ein paar Pflichten. Zum Beispiel die Pflicht, auf andere Rücksicht zu nehmen. Ich wohne auch hier. Es ist mein Haus. Es gibt genug Menschen, die eine Wohnung suchen.“
„Ich werde daran denken“, antwortete Mark doppeldeutig.
„Ja, tun Sie das!“
Mark bedachte sie mit einem freundlichen Lächeln, bevor er in den Keller ging und sein Fahrrad herausholte. Es störte ihn, dass Else Hagen permanent sein Kommen und Gehen beobachtete. Mehrmals hatte er versucht, ein harmloses Gespräch mit ihr zu führen, aber wenn er sie ansprach, starrte sie ihn nur stumm aus zusammengekniffenen Augen an. Mit dieser Frau gab es kein Auskommen, kein freundliches „Hallo“ im Treppengang. Mark wäre freiwillig ausgezogen, aber seine Altbauwohnung war ein Traum mit hohen Decken, wunderschönen alten Holztüren und Giebelfenstern. Und das Ganze zu einem erträglichen Mietpreis. Aber an Tagen wie diesem fragte er sich, ob es das wert war. Kopfschüttelnd schwang er sich in den Sattel seines Fahrrads und trat in die Pedale.
Dr. Katherine Tallet begann ihren Dienst wie jeden Morgen mit einem Lächeln und der üblichen Besprechung mit dem OP-Team über die anstehenden Operationen des Tages. Der Besprechungsraum glich Hunderten von ähnlichen Räumen in Krankenhäusern überall auf der Welt. Katherine dachte oft, dass Darwins Evolutionstheorie nicht nur bei Lebewesen Anwendung fand, sondern auch bei Büromöbeln. Derzeit bestand die Spitze der natürlichen Auslese aus glatten grauen Tischen auf runden Metallbeinen, um die sich Chromsessel mit schwarzem Lederbezug gruppierten.
Alles hier drin war nüchtern, sachlich und funktionell. An den Wänden hingen keine Bilder, und keine Schränke versperrten die Sicht auf die blassgelbe Farbe, in der sie gestrichen waren. Katherine seufzte.
Heute standen eine Herztransplantation an einem fünfundfünfzigjährigen Manager und die Entfernung eines Lungenflügels bei einem erst zehn Jahre alten Kriegsopfer aus dem Kosovo an. Der Junge war im Rahmen der ärztlichen Hilfe für Kriegsopfer nach Deutschland gekommen. Eine vergessene Landmine in der Nähe eines ehemaligen serbischen Waffenlagers war explodiert, als der Junge mit Freunden vor den Toren der Kaserne Fußball gespielt hatte. Die drei anderen waren tot. Tomic hatte Glück gehabt, aber herumfliegende Splitter hatten seinen Brustkorb durchschlagen und seine Lunge regelrecht punktiert.
Der linke Lungenflügel war wiederhergestellt worden, aber der rechte versagte noch immer seinen Dienst und würde nie mehr funktionieren. Der Junge hatte heftige Probleme beim Atmen. Da sein Gesundheitszustand inzwischen stabil war, konnte man endlich den Eingriff wagen, ohne dass Tomic an einem Operationsschock starb.
Katherine blickte noch einmal auf die Patientendaten, die vor ihr lagen. Um zehn Uhr war Erwin Tenkendorf an der Reihe. Um siebzehn Uhr würden sie Tomic operieren.
„Sind die OPs vorbereitet?“, wandte sich Katherine an Birgit Kenner, die leitende OP-Schwester, eine rundliche Frau mit hochgestecktem Haar, die für den Zustand und die Vorbereitung des Operationssaals verantwortlich war.
„Ja.“ Kurz und knapp, aber das war ihre Art. Eine Art, die Katherine mochte. Auf Birgit Kenner konnte man sich verlassen. Sie war überaus sorgfältig und nahm ihre Aufgabe ernst. Eigentlich war die Frage überflüssig gewesen, aber Katherine ließ niemals etwas außer Acht. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass Dinge schief gehen konnten, wenn man ihnen die Chance dazu gab.
„Tenkendorf hat eine ungewöhnliche Blutgruppe. Stehen die Blutkonserven bereit?“
Birgit Kenner
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