Die Leopardin
»Ich dachte, er wäre im Fluà ertrunken.« Entsetzt starrte er
auf die teils verkrusteten, teils eiternden Peitschenstriemen. Das Haar
des Gefolterten war mit Blut befleckt, röchelnd rang er nach Atem, und
sein Puls raste. »Harry?« Anscheinend waren ihm die Sinne nicht ganz
geschwunden, denn beim Klang seines Namens und der vertrauten Stimme
flatterten seine Lider. »Harry, um Himmels willen, kannst du mich
hören?«
Stöhnend krallte Harry die Finger ins Stroh,
auf dem er lag. »Renard?« flüsterte er kaum vernehmlich. »Warum ist es
so dunkel? Sind wir in Ravenstow?«
»Nein â gefangen in Lincoln. Stephen hat die Schlacht verloren.«
»Lincoln?
Ach ja, ich erinnere mich. Schneit es immer noch?« Endlich gelang es
Harry, die Augen zu öffnen. Sein leerer Blick wanderte durch das
feuchte Halbdunkel, ehe er sich auf Renard richtete.
»Ich weià es nicht. Wer hat dir das angetan?«
Die
zornige Miene seines Bruders entlockte Harry ein schwaches Lächeln. Sie
mochten nichts gemeinsam haben auÃer der engen Verwandtschaft, aber in
Krisenzeiten war Blut dicker als Wasser. »Graf Ranulf verlor die
Geduld, als ich seine Fragen nicht beantworten konnte. Deine Hure
bewahrte mich davor, erschlagen zu werden.«
»Olwen!«
»Ihren
Namen höre ich jetzt zum erstenmal. Ich wuÃte nur, daà sie dich
seinetwegen verlassen hatte. Ihr kleiner Sohn ist rothaarig â¦Â«
Harrys Stimme erstarb, die Augen schlossen sich wieder, SchweiÃperlen
glänzten auf seinem wachsbleichen Gesicht.
FitzUrse hob
den Becher auf, den Renard hatte fallen lassen, und füllte ihn zu einem
Drittel mit Bier. Dann kauerte er sich an Harrys andere Seite. Mit
Renards Hilfe hob er den Kopf des geschundenen jungen Mannes ein wenig
hoch und flöÃte ihm das Getränk ein. Das war schwierig, weil Harry auf
dem Bauch lag, und wegen der Peitschenstriemen wagten sie es nicht, ihn
umzudrehen. Krampfhaft schluckte er, würgte und hustete, aber
wenigstens ein Teil der Flüssigkeit rann in seine Kehle. Er schlug die
Augen wieder auf. »Onkel Robert ritt vorbei, und sie sprach ihn
an â nicht um meinetwillen. Ich war ihr nicht wichtiger als ein
geprügelter Hund. Vermutlich wollte sie sich an Graf Ranulf rächen, der
sie angebrüllt hatte.«
Das sah Olwen ähnlich. Im
vergangenen Jahr waren Renards Gedanken oft zu ihr zurückgekehrt, wie
eine Zunge zu einem schmerzenden Zahn. Diesmal wurde die schmerzliche
Wut von einer gewissen widerwilligen Bewunderung verdrängt. »Aber wenn
Gloucester dich aus Chesters Klauen befreit hat â wieso bist du
dann in dieses Verlies geworfen worden?«
»Im Moment hat
er so viel um die Ohren, daà er sich nur an mich erinnert, wenn ich ihm
direkt vor die Nase gehalten werde.« Harrys Stimme klang immer
schwächer, während das Fieber seine Kräfte anzapfte und durch Gift
ersetzte. »Als seine Sachen vom Zelt ins Schloà gebracht wurden, lieÃ
sein Kaplan mich beiseite schaffen â in der Hoffnung, Onkel Robert
würde mich vergessen und ich würde woanders sterben, nicht zu FüÃen
Seiner Lordschaft.«
»Sprich nicht weiter, du muÃt dich
schonen.« Beschwichtigend legte Renard eine Hand auf das Handgelenk
seines Bruders, das viel zu schnell pulsierte.
»Wofür?
Damit ich hinausgebracht und wieder ausgepeitscht werden kann? Was wird
mit uns allen geschehen, wenn wir die Gefangenschaft überleben?«
»Man will uns nach Gloucester bringen«, erklärte FitzUrse. »Dort werden wir der Kaiserin vorgeführt.«
»Vermutlich
wird man uns töten, enterben, verbannen, unsere Familien und Ländereien
dem verkaufen, der den höchsten Preis bietet. Dann sterbe ich lieber
jetzt gleich.«
»Hör auf, vom Sterben zu reden!« fauchte
Renard. »Du bist verwundet, das ist alles â und nicht einmal so
schlimm wie letztes Mal.«
Harry schnitt eine
Kadavergrimasse. »Und ich dachte, ich wäre der einzige, der dazu neigt,
sich Illusionen zu machen.« Seine Lider senkten sich, und er wandte den
Kopf ab.
Frustriert starrte Renard das blutige blonde
Haar an. Er konnte nichts für seinen Bruder tun, auÃer dessen Tod zu
beschleunigen, und weil das viel zu leicht gewesen wäre, schreckte er
davor zurück. Das Gefühl einer grauenhaften Unvermeidlichkeit kroch in
sein BewuÃtsein. Nie zuvor war er sich so hilflos und
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