Die Leopardin
den Blick nach Westen. »Sie haben Recht, da kommt noch einer.«
Die drei Männer verließen das Büro und gingen hinaus auf den Platz. Francks Fahrer, der an der Kühlerhaube des Citroen lehnte, trat seine Zigarette aus und nahm Haltung an. Neben ihm wartete ein Gestapo-Mann mit einem Motorrad. Seine Aufgabe war es, die Beschattung Michel Clairets zu übernehmen.
Sie gingen zum Bahnhof. »Gibt es hier noch einen zweiten Ausgang?«, fragte Franck den Gestapo-Chef.
»Nein.«
Während sie auf die Ankunft der Züge warteten, fragte Hauptmann Bern: »Haben Sie die neuesten Nachrichten schon gehört, Herr Major?«
»Nein. Was ist denn passiert?«, fragte Franck zurück.
»Rom ist gefallen.«
»Mein Gott!«
»Die amerikanische Armee hat gestern Abend um sieben Uhr die Piazza Venezia erreicht.«
Als ranghöchster Offizier der Gruppe sah Franck sich bemüßigt, die Kampfmoral aufrechtzuerhalten. »Das ist keine gute Nachricht«, sagte er. »Aber sie kommt nicht ganz unerwartet. Davon abgesehen ist Italien nicht Frankreich. Hierzulande werden alle Invasoren eine böse Überraschung erleben.«
Hoffentlich, dachte er, sprach es aber nicht aus.
Der Zug aus dem Osten lief als erster ein. Die Passagiere waren noch dabei, auszusteigen und ihr Gepäck auszuladen, als auch der Gegenzug einrollte. Am Eingang des Bahnhofs drängte sich eine kleine Gruppe von Menschen, die offenbar Reisende abholen wollten. Franck unterzog jeden Einzelnen einer genauen Blickkontrolle und fragte sich insgeheim, ob die örtliche Resistance die Unverfrorenheit besaß, Michel Clairet vom Zug abzuholen, aber es fiel ihm nichts auf, was diesen Verdacht bestätigt hätte.
Gleich neben der Sperre befand sich ein Kontrollpunkt der Gestapo. Der Chef trat an den Tisch, wo ein untergeordneter Beamter Dienst tat, und gesellte sich zu ihm. Hauptmann Bern lehnte sich an eine Säule, die ihn halb verdeckte. Franck kehrte zu seinem Wagen zurück, setzte sich in den Fond und behielt von dort aus den Bahnhof im Auge.
Was mache ich, wenn dieser Bern Recht hat und die Tunnelgeschichte nur ein Ablenkungsmanöver ist?, dachte er. Eine Horrorvorstellung – aber ich muss mir über mögliche Alternativen zumindest Gedanken machen. Welche anderen militärischen Ziele im
Umkreis von Reims sind für die Saboteure interessant? Das Schloss in Sainte-Cecile natürlich – aber da haben sich die Kerle ja erst vor einer Woche eine blutige Nase geholt. So bald nach einem solchen Desaster trauen sie sich da bestimmt noch nicht wieder ran. Dann wären da noch diese Kaserne nördlich von Reims und die Rangierbahnhöfe an der Strecke nach Paris. Aber mit Spekulationen komme ich nicht weiter. Ich brauche handfeste Informationen.
Ich könnte mir natürlich gleich Michel Clairet vorknöpfen. Wenn ich ihm einen Fingernagel nach dem anderen ausreiße, wird er schon reden – nur: Wer garantiert mir, dass er Bescheid weiß? Womöglich tischt er uns nur wieder eine andere Legende auf – und glaubt selbst daran, genauso wie diese Diana. Nein, es ist sicher besser, Clairet weiterhin zu beschatten und abzuwarten, bis er sich mit seiner Frau trifft. Die kennt das wahre Ziel garantiert und ist die Einzige, deren Verhör jetzt noch etwas nutzt.
Die Gestapo kontrollierte sorgfältig die Ausweise der Reisenden, sodass es lange dauerte, bis die Passagiere, einer nach dem anderen, aus der Bahnhofshalle kamen. Francks Ungeduld wuchs. Plötzlich ertönte ein Pfiff, und der Zug Richtung Reims setzte sich in Bewegung. Weitere Reisende passierten den Kontrollpunkt – zehn, zwanzig, dreißig. Und dann fuhr auch der Gegenzug in Richtung Deutschland ab.
Leutnant Hesse kam durch die Bahnhofstür.
»Was, zum Teufel … ?«, entfuhr es Franck.
Hesse sah sich um, entdeckte den schwarzen Citroen und hielt darauf zu.
Franck sprang aus dem Wagen.
»Was ist passiert? Wo ist er?«, fragte Hesse.
»Was soll die Frage?«, brüllte Franck ihn an. »Sie sollen ihn beschatten!«
»Hab ich doch! Er ist hier ausgestiegen. In der Schlange vor dem Kontrollpunkt hab ich ihn aus den Augen verloren. Das kam mir komisch vor, und ich habe mich dann vorgedrängelt, aber da war er schon verschwunden.«
»Ist er vielleicht wieder in den Zug gestiegen?«
»Unmöglich – auf dem Bahnsteig war ich dauernd hinter ihm.«
»Kann er in den Gegenzug gestiegen sein?«
Dem Leutnant klappte der Unterkiefer herunter. Nach einer Pause sagte er: »Als wir an dem Übergang zum anderen Bahnsteig vorbeikamen, war er plötzlich
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