Die Leopardin
Polizeiwagen und die Citroëns der Gestapo, doch im Augenblick fühlte sie sich relativ sicher. Sie fuhr ein Fahrzeug, das als legitimer Lebensmitteltransporter gekennzeichnet war. Und dass eine Frau am Steuer eines solchen Fahrzeugs saß, war nicht ungewöhnlich: Viele Männer befanden sich in deutschen Arbeitslagern – oder hatten sich in die Berge geschlagen und dem Maquis angeschlossen, um eben nicht in solche Lager deportiert zu werden.
Kurz nach zwölf erreichten sie Sainte-Cecile. Flick spürte die wundersame Stille, die sich Schlag zwölf über Frankreichs Straßen senkte, wenn die Menschen sich zu Tisch begaben und die erste richtige Mahlzeit des Tages einnahmen. Sie fuhr zu dem Haus, in dem Michels Tante Antoinette lebte. Ein Holztor, dessen einer Flügel offen stand, führte in den Innenhof. Paul sprang heraus, um auch den zweiten Torflügel zu öffnen, Flick fuhr den Metzgereiwagen auf den Hof, und Paul schloss hinter ihr das Tor. Das Fahrzeug mit seiner unverwechselbaren Aufschrift war nun von der Straße aus nicht mehr zu sehen.
»Wartet hier, bis ich pfeife«, sagte Flick und stieg aus.
Sie ging zu Antoinettes Wohnungstür, während die anderen im Wagen blieben und warteten. Beim letzten Mal, als Flick an diese Tür geklopft hatte – erst acht Tage war es her, und doch kam es ihr vor, als wäre ein ganzes Leben vergangen –, war Michels Tante wegen der Schüsse zwischen Schloss und Kirche so verängstigt gewesen, dass sie sich kaum zu öffnen getraut hatte. Dieses Mal kam sie sofort, eine schmale Frau mittleren Alters in einem eleganten, aber verblichenen gelben Baumwollkleid. Zuerst sah sie Flick, die nach wie vor die dunkle Perücke trug, nur fragend an, doch dann erkannte sie, wer da vor ihr stand. »Sie!«, sagte sie, und ihre Miene verriet Panik. »Was wollen Sie?«
Flick pfiff die anderen herbei und stieß Antoinette in die Wohnung zurück. »Nur keine Angst«, sagte sie. »Wir werden Sie fesseln, damit die Deutschen glauben, wir hätten Sie mit Gewalt dazu gezwungen.«
»Was soll das?«, fragte Antoinette mit zitteriger Stimme.
»Ich erklär’s Ihnen gleich. Sind Sie allein?«
»Ja.« »Gut.«
Die anderen kamen herein, und Ruby schloss die Wohnungstür. Sie gingen in die Küche. Der Tisch war gedeckt: Schwarzbrot, ein Salat aus geraspelten Karotten, ein Stück Käse und eine Weinflasche ohne Etikett.
»Was soll das alles?«, fragte Antoinette erneut.
»Nehmen Sie Platz«, erwiderte Flick, »und essen Sie erst einmal fertig.«
Sie setzte sich, sagte jedoch, dass sie jetzt keinen Bissen herunterbekomme.
»Es ist ganz einfach«, erklärte Flick. »Sie und Ihre Kolleginnen werden heute Abend nicht zum Putzen ins Schloss gehen. Das tun wir.«
»Wie wollen Sie das denn anstellen?«, fragte Antoinette ungläubig.
»Wir teilen den Frauen der Abendschicht mit, dass sie vor Arbeitsbeginn hier herkommen sollen. Wenn sie auftauchen, fesseln wir sie – und gehen dann an ihrer Stelle ins Schloss.«
»Das können Sie nicht! Sie haben doch keine Passierscheine.«
»Doch, haben wir.«
»Wie …?« Antoinette hielt die Luft an. »Dann waren Sie das, die vorigen Sonntag meinen Ausweis gestohlen hat! Und ich dachte, ich hätte ihn verloren. Sie haben mich damit in die größten Schwierigkeiten gebracht!«
»Tut mir leid.«
»Die Deutschen haben ein furchtbares Theater gemacht. Aber diesmal wird’s noch schlimmer – Sie wollen doch bestimmt das ganze Gebäude in die Luft jagen!« Antoinette stöhnte. »Und mir werden sie die Schuld daran geben, Sie kennen die doch! Die werden uns alle foltern!«
Flick biss die Zähne zusammen. Antoinettes Befürchtung war nicht von der Hand zu weisen. Ohne weiteres war der Gestapo zuzutrauen, dass sie die regulären Putzfrauen auf den bloßen Verdacht hin, sie könnten etwas mit dem Täuschungsmanöver zu tun haben, umbrachte.
»Wir sorgen dafür, dass an Ihrer Unschuld kein vernünftiger Zweifel mehr bestehen kann«, erklärte sie. »Sie sind unsere Opfer, genauso wie die Deutschen.« Dass sich ein gewisses Restrisiko nicht beseitigen ließ, war Flick vollkommen bewusst.
»Sie werden uns nicht glauben«, jammerte Antoinette. »Und dann werden wir wahrscheinlich alle getötet.«
Flick verschloss ihr Herz. »Richtig«, sagte sie, »deshalb heißt es ja auch Krieg.«
Bei Maries, einer Kleinstadt östlich von Reims, führte die Eisenbahntrasse Richtung Frankfurt, Stuttgart und Nürnberg über eine längere Strecke bergauf. Durch den Tunnel gleich hinter
Weitere Kostenlose Bücher