Die Leopardin
war, habe ich mal den König gesehen«, erzählte Flick.
»Den jetzigen?«
»Nein, seinen Vater, Georg V. Er kam mal nach Somersholme zu Besuch. Man hielt mich natürlich von ihm fern. Doch am Sonntagmorgen spazierte er durch den Kräutergarten und sah mich. ›Guten Morgen, kleines Mädchen‹, sagte er zu mir. ›Bist du schon fertig für die Kirche?‹ Er war ein kleiner Mann, aber seine Stimme war dröhnend laut.«
»Was haben Sie geantwortet?«
»›Wer bist du?‹, habe ich ihn gefragt. ›Ich bin der König‹, sagte er. Worauf ich der Familienlegende zufolge erwidert haben soll: ›Nein, das kann nicht sein. Dafür bist du nicht groß genug.‹ Ich hatte Glück – er nahm’s mit Humor und hat gelacht.«
»Da fehlte Ihnen also schon als Kind der nötige Respekt vor Autoritäten.«
»Ja, anscheinend.«
Paul hörte ein leises Stöhnen. Er runzelte die Stirn, sah in die Richtung, aus der das Geräusch kam, und entdeckte Ruby Rowland mit dem Waffenausbilder Jim Cardwell. Ruby lehnte mit dem Rücken an einem Baum, und Jim umarmte sie. Sie küssten sich leidenschaftlich. Ruby stöhnte erneut.
Nein, sie umarmten sich nicht nur. Paul erkannte, was vorging, und fühlte sich gleichermaßen erregt wie peinlich berührt. Jims Hände wühlten in Rubys Bluse. Ihr Rock war bis zur Taille hochgeschoben. Paul sah ein braunes Bein in voller Länge und ein dichtes Büschel dunkler Haare dort, wo es zu Ende war. Das andere Bein hatte sie angezogen und im Knie gebeugt, der Fuß lag hoch auf Jims Hüfte. Die Bewegungen der beiden ließen keinen Zweifel mehr offen.
Paul streifte Flick mit einem Seitenblick. Sie hatte dasselbe gesehen wie er, starrte einen Augenblick auf die Szenerie, die sich ihnen bot, und in ihrem Ausdruck mischte sich blankes Erschrecken mit etwas anderem. Dann wandte sie sich rasch ab. Paul tat es ihr nach, und beide gingen so leise, wie sie konnten, den gleichen Weg zurück, auf dem sie gekommen waren.
Als sie außer Hörweite waren, sagte Paul: »Es tut mir furchtbar leid.«
»Ist doch nicht Ihre Schuld«, sagte sie.
»Trotzdem. Es tut mir leid, dass ich Sie hier langgeführt habe.«
»Wirklich keine Ursache. Ich hab noch nie jemanden das. das tun sehen. War irgendwie ganz lieb.«
»Lieb?« Dieses Wort hätte er nicht gewählt. »Und Sie sind irgendwie völlig unberechenbar.«
»Fällt Ihnen das erst jetzt auf?«
»Sparen Sie sich Ihre Ironie! Ich habe Ihnen lediglich ein Kompliment gemacht«, sagte er, ihre Worte von vorhin wiederholend.
Sie lachte und sagte: »Dann höre ich jetzt lieber auf, bevor ich mich noch tiefer in die Nesseln setze.«
Sie erreichten den Waldrand. Das Tageslicht schwand nun schnell. Im Haus waren die schwarzen Verdunkelungsvorhänge zugezogen. Maude und Diana waren verschwunden, die Bank unter der Blutbuche frei. »Setzen wir uns doch für einen Augenblick«, sagte Paul. Er hatte es nicht eilig, wieder ins Haus zu kommen.
Flick folgte seinem Vorschlag wortlos.
Er setzte sich ein wenig schräg auf die Bank, sodass er Flick beobachten konnte. Sie ertrug seinen forschenden Blick ohne Kommentar, wirkte aber sehr nachdenklich. Er nahm ihre Hand und streichelte ihre Finger. Flick sah ihn an. Ihre Miene verriet nichts, aber sie zog ihre Hand auch nicht zurück. »Ich weiß, dass es sich nicht gehört«, sagte er, »aber ich möchte dich unglaublich gerne küssen.« Sie sagte immer noch nichts, sondern sah ihn nach wie vor unverwandt mit jenem rätselhaften, halb belustigten, halb traurigen Blick an. Er interpretierte ihr Schweigen als Zustimmung und küsste sie.
Ihr Mund war weich und feucht. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Empfindung. Zu seiner Überraschung teilten sich ihre Lippen, und er spürte ihre Zungenspitze.
Er öffnete den Mund, nahm sie in die Arme und zog sie an sich, doch Flick entzog sich ihm und stand auf. »Genug«, sagte sie, wandte sich ab und ging auf das Haus zu.
Im letzten Licht des Abends sah er ihr nach. Auf einmal schien es ihm auf der ganzen Welt nichts Begehrenswerteres zu geben als ihren kleinen, hübschen Körper.
Als sie im Haus verschwand, folgte er ihr. Im Empfangszimmer saß nur noch Diana. Sie rauchte eine Zigarette und war in Gedanken versunken. Spontan setzte Paul sich zu ihr und sagte: »Sie kennen Flick doch schon seit Ihrer Jugend. «
Dianas Lächeln war überraschend freundlich. »Sie ist wunderbar, nicht wahr?«
Paul wollte nicht zu viel von dem verraten, was ihn bewegte. »Ich mag sie sehr und würde
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