Die Letzte Arche
sie Max, und sie respektierte ihn. Sie wollte nicht, dass er ums Leben kam, was mit hoher Wahrscheinlichkeit geschehen würde, wenn sie mit ihrem Plan weitermachten.
Aber er zuckte die Achseln. »Er hat Terese. Wilson. Er kaltfickt sie. Das ist nicht richtig.«
Steel wusste, dass selbst dieses Wort der Schiffsgeborenen, »kaltficken«, nicht angemessen war für das, was Wilson mit Max’ Zwillingsschwester tat. Er benutzte Terese nur, wie er auch sie benutzt hatte, bevor sie ihm zu alt geworden war, ihre Knochen zu lang, ihre Brüste zu groß. Max benutzte dieses Wort zum Trost; er belog sich damit selbst. Das war Max’ Motiv. Ihres ging tiefer.
Sie packte ihn am Arm. »Wir tun es und machen Schluss mit den Lügen.«
Er nickte. Wut und Angst bekriegten sich in seiner Miene. »Wann?«
»Das erfährst du noch.«
84
JUNI 2068
Ein einzelner Schuss in der Nacht.
Holle setzte sich in ihrer Koje kerzengerade auf. Ihre Decke schwebte im Dunkeln um sie herum.
Ein Schuss. Ein scharfer, perkussiver Knall. Unverkennbar. In den letzten Jahren auf der Erde hatte sie genug Schüsse gehört, seit dem Chaos des Starts aber keinen mehr. Sie hatte schon immer den Verdacht gehabt, dass die vor all diesen Jahren konfiszierten Waffen der Illegalen irgendwo in einem Versteck gelandet waren. Wahrscheinlich hatte Wilson sie versteckt; er gehörte zu der Sorte Menschen, die schon damals vorausgedacht hätten.
Ein Schuss in einem Druckkörper. Sie zwang sich dazu, sich nicht zu rühren, in der Luft zu schnuppern, auf ein Knacken in ihren Ohren zu horchen, auf eine Brise zu achten – alles Anzeichen für ein Loch im Rumpf, für den Verlust der Luft, die sie und ihr Team tagein, tagaus im Rumpf zirkulieren ließen, deren Moleküle allesamt zehn Milliarden Mal durch menschliche Lungen gewandert waren, der Luft, die sie am Leben erhielt. Die Innenseite des Rumpfes war mit einer sich selbst versiegelnden Masse beschichtet und sollte ein einzelnes Kugelloch verkraften können. Aber wie wahrscheinlich war es, dass an diesem Tag nur ein einziger Schuss abgefeuert werden würde?
Dann hörte sie Rufe, eine Art Sprechchor. »Brecht – aus! Brecht – aus!«
Holle schloss einen Moment lang die Augen.
Sie hatte immer gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Sie war neunundvierzig Jahre alt, fühlte sich aber, geschwächt von der Gefangenschaft und der Schwerelosigkeit, älter und sah wahrscheinlich auch älter aus. Sie wollte nicht mit einer Revolte der Jungen konfrontiert sein, so unvermeidlich sie auch war. Vielleicht konnte sie sich einfach in ihrer Kabine einschließen, sich unter den Decken vergraben, ihrem Angel lauschen, über ihren Vater nachdenken und abwarten, bis Wilson und seine Schläger diesen Schlamassel bereinigt hatten.
Aber sie konnte sich nicht verstecken. Jemand feuerte im Innern des Moduls eine Schusswaffe ab – im Innern ihres Moduls. Das musste sofort aufhören.
Sie bewegte sich, schnappte sich Overall und Stiefel und zog sich rasch an. Sie setzte die Snoopy-Haube auf und versuchte, mit Wilson, Venus oder sonstwem Kontakt aufzunehmen. Aber sie hörte nicht einmal ein atmosphärisches Rauschen.
Es war Steel Antoniadi, die die Schusswaffe hatte.
Als Helen Gray aus ihrer Kabine kam, war es vier Uhr früh. Die großen Leuchtplatten der Bogenlampen glommen in mattem Orange; sie warfen gerade so viel Licht, dass die Wachmannschaft etwas sehen konnte.
Und Steel fuchtelte mit einer Schusswaffe herum. Steel befand sich im Schatten, aber das orangefarbene Licht glitzerte in ihren Augen und wurde vom Metallschaft der Waffe reflektiert. Der Beweis für den einen Schuss, den sie bislang abgefeuert hatte, war eine Furche in der Polsterung der Rutschstange. Es war ein unglaublicher Anblick. Die sechsundzwanzigjährige Helen hatte bisher noch nicht einmal eine Schusswaffe gesehen , außer auf Archivbildern und in HeadSpace-Simulationen. Und
nun reckte Steel, eine von Helens ältesten Freundinnen, das hässliche schwarze Ding über ihren Kopf, während sie sich mit der anderen Hand an einem Führungsseil festhielt, und intonierte rhythmisch: »Brecht – aus! Brecht – aus! Es ist Zeit, Zeit, Zeit für uns!«
Helen hob den Blick. Am Ende der Rutschstange mit ihren aneinandergereihten, grob zusammengezimmerten Kabinen war eine Stahlwand, die den oberen Teil von Hawila abtrennte. Wilson, seine Handlanger und ihre Lustknaben residierten jetzt in den oberen vier Decks des Moduls, durch eine Barrikade aus mehreren
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