Die letzte Aussage
tatsächlich Tränen über sein Gesicht.
»Du warst noch sehr jung«, sagt Helen. »Vielleicht sollte ich Ty erzählen, was dann passiert ist.«
Er nickt. Dann beißt er sich in den Handrücken.
»Wir bekamen einen Anruf von Danny«, sagt sie. »Er hatte den Arzt vom studentischen Gesundheitsdienst gerufen, damit er sich Nicki ansieht. Sie hatte viel zu wenig gegessen und war krank geworden. Der Doktor sagte, dass sie in Behandlung müsse, richtige Behandlung in einem Krankenhaus. Ohne eine intensive Betreuung würde sie nicht mehr gesund. Er diagnostizierte sie auf Magersucht. Ab einem gewissen Punkt gibt es keine Umkehr mehr, man hungert sich zu Tode. Eine schreckliche Sache, aber unter jungen Mädchen gar nicht mal so selten.«
»Alles klar«, erwidere ich. Über Magersucht weiß ich so einiges, habe mehr als einen Artikel darüber in Cosmo gelesen. Allerdings dachte ich immer, Mädchen mit Anorexie sehen wie lebende Skelette aus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Mum je so ausgesehen hat.
»Dann ist sie … deswegen im Krankenhaus gewesen?«
»Nicki hat nicht nur nichts mehr gegessen«, sagt Helen, »sie hat sich eingebildet, dass auch du auf Diät gehalten werden müsstest. Danny ist mit dir zu einem Kinderarzt gegangen. Du hattest bereits erste Wachstumsstörungen, mein Schatz. Untergewicht.«
»Ich dachte schon, sie geben dich irgendwohin in Pflege«, sagt mein Dad mit tonloser, trauriger Stimme. »Ich musste sie benachrichtigen. Ich wusste nicht, was ich machen sollte.«
Mit »sie« meint er, glaube ich, Helen und Patrick. Er muss ziemlich verzweifelt gewesen sein.
»Nicki wollte von alldem nichts wissen«, erzählt er weiter. »Ich glaube, dass sie es sogar heute noch nicht akzeptiert. Als du im Krankenhaus warst, haben wir das Thema die ganze Zeit vermieden. Einfach nicht darüber geredet. Die Essstörung hat sie inzwischen wohl überstanden, vermute ich … aber viel isst sie immer noch nicht, oder? Louise nennt sie eine funktionsfähige Magersüchtige.«
Ich komme mir vor wie im Spiegelkabinett auf dem Rummel, wo einen diese komischen Spiegel in die Länge ziehen oder zusammenstauchen – alles ist gleich, aber doch total anders. Meine Mum hat keine Essstörung –oder doch? Sie isst morgens ein ganzes Glas Magerjoghurt, sie macht sich ein Brot und isst die Hälfte zu Mittag und die andere Hälfte zum Abendessen. Wenn sie ein Stück Kuchen oder ein paar Pommes isst, wird am nächsten Tag ein bisschen weniger gegessen. Gran hat sie immer gefragt, was sie gegessen habe und was ich gegessen habe, und hat unseren Kühlschrank ständig aufgefüllt. Ich habe schon in jungen Jahren gelernt, dass ich Geld aus Nickis Portemonnaie nehmen muss, um meine Bedürfnisse abzudecken.
Aber sie ist nicht krank. Sie sieht so gut aus wie die Stars in den Zeitschriften. Sie ist nicht krank und sie stirbt auch nicht, sie ist auch nicht in der Klapse und braucht auch keine Behandlung.
»Sie musste in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden«, sagt er, »weil sie es nie zugegeben hätte … sie akzeptierte nicht, dass … Ich wusste, dass sie mir nie verzeihen würde. Nie werde ich ihr Gesicht vergessen … ihr Gesicht … Wie auch immer, sie hat jedenfalls ihre Mutter angerufen, die kam nach Manchester, um bei Nicki zu sein. Ich habe sie angerufen«, er nickt in Richtung Helen, »und sie sind gekommen und haben dich mitgenommen. Und dann bin ich einfach … einfach nur …«
»Er ist abgetaucht«, sagt Helen. »Ungefähr einen Monat später war das. Seine Wohnung in Manchester hat er gekündigt und zur Uni ist er auch nicht mehr gegangen. Wir wussten nicht, wo er sich aufhielt und was mit ihm passiert war. Zwei Jahre lang haben wir nichts von ihm gehört.«
»Es tut mir leid«, sagt er mit der gleichen tonlosen, traurigen Stimme, und sie erwidert: »Wir haben schrecklich lange darauf gewartet, dass du das sagst. Vielleicht möchtest du es deinem Vater auch noch sagen.«
Ja, klar, das kann sie haben, denke ich, und jede Wette, dass mein Dad das Gleiche denkt.
»Es war nur, weil … Ich wusste, dass ihr besser für ihn sorgen würdet, als ich es je könnte. Sogar Pa. Nicki hatte mir unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie mich nie wieder sehen wollte. Ich war … ich kam mit alldem nicht mehr klar. Ich dachte, dass mich niemand mehr brauchte.«
»Deine Schwester war schwanger«, sagt Helen. »Der Stress und die Sorge um dich waren vielleicht sogar für ihre Fehlgeburt verantwortlich.«
Es
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