Die letzte Aussage
sie inzwischen selbst glauben. Damit komme ich klar. Liegt wahrscheinlich bei uns in der Familie.
Ich war als Kind überhaupt nicht still. Schon als Kleinkind hatte ich legendäre Wutanfälle. Ich habe stundenlang geschrien und geheult und um mich geschlagen und nur Gran konnte mich beruhigen. Meine Tante Emmazieht mich manchmal damit auf, dass ich einmal eine volle Stunde geschrien habe, weil keine roten Smarties in der Tüte gewesen sind, oder dass ich einmal den Gemüsehändler gebissen habe, als er mir einen Apfel anbot. Ich war unberechenbar.
Drei Tagesmütter haben mich wieder abgegeben, letztendlich musste Gran ihre Arbeit kündigen, damit sie sich mehr oder weniger rund um die Uhr um mich kümmern konnte.
In der Schule habe ich es nur einmal probiert, dann hat Arron mir gesagt, ich würde mich wie ein Kleinkind aufführen, und ich habe sofort damit aufgehört. Ende. Keine Wutanfälle mehr. Damals habe ich mich in einen eher stillen Jungen verwandelt. Eigentlich kann ich mich an diese Ausbrüche selbst nicht mehr erinnern – obwohl ich die unangenehmen Einzelheiten immer wieder erzählt bekommen habe –, aber ich habe eine verschwommene Erinnerung daran, wie Gran mich im Arm hält und hin und her wiegt und mir sagt, dass alles wieder gut wird.
Ach, wenn sie doch jetzt hier wäre! Helen brät Zwiebeln in einem großen gusseisernen Topf an, genau wie Gran immer, und sie hat Karotten und Steckrüben in eine andere Schüssel geschnippelt, auch genauso wie Gran. Eigentlich macht sie genau den Eintopf, der immer mein Lieblingsessen bei Gran war. Mir müsste gleich das Wasser im Mund zusammenlaufen, aber stattdessen steigen mir Tränen in die Augen. Wahrscheinlich liegt es an den Zwiebeln.
»Reichst du mir bitte die Schüssel dort, mein Liebling?«
Ich schiebe die Karotten in ihre Richtung.
»Weißt du noch, wie wir immer zusammen gekocht haben?«, fragt sie. »Der Doktor hat gesagt, es sei eine gute Idee, dich so oft wie möglich in alles miteinzubeziehen. Patrick hat es Julie gesagt, als sie dich bei sich aufgenommen hat, und ich hoffe, sie hat damit weitergemacht. Aber es scheint ja funktioniert zu haben, denn du bist richtig groß und stark geworden.«
Was redet sie da? Welcher Doktor? Ich bin noch nie bei einem Arzt gewesen. Sie ist wirklich ganz schön verwirrt. Sie sollte dringend selbst mal einen Arzt aufsuchen. Ich überlege, ob ich es ihr irgendwie auf taktvolle Weise vorschlagen sollte – aber es ist schon heftig, einer freundlichen alten Dame zu erklären, dass sie nicht mehr alle Tassen im Schrank hat.
Der Geruch von Zwiebeln steigt mir in die Nase und etwas Eigenartiges flackert in meiner Erinnerung auf. Ich stehe ganz wacklig auf einem hohen Hocker, strecke die Hand in eine Schüssel voller roter, klebriger Würfel und werfe sie einen nach dem anderen in den Topf. Mir gefällt das glitschige Gefühl des Fleisches und das Zischen in der Pfanne, aber ich bin zugleich hungrig und besorgt. So besorgt, dass kaum Platz für etwas anderes ist.
Ich erinnere mich wohl daran, wie ich mit Gran gekocht habe. Aber warum bin ich so beunruhigt gewesen? Irgendwie ist mir das alles zu viel.
»Ich geh nur mal aufs Klo«, sage ich und stolpere aus der Küche. Draußen in der Diele setze ich mich auf denBoden und ziehe die Knie an die Brust. Ich habe keine Ahnung, was los ist. Ich drehe hier noch durch – eingesperrt wie ein Gefangener, der sich mit Archie eine Zelle teilen muss! Es ist so heiß und stickig. Ich brauche frische Luft. Ich muss mich bewegen. Fünf Minuten an der frischen Luft können ja wohl nicht schaden. Ich gehe zur Haustür und mache sie so leise wie möglich auf.
Ich bin draußen. Zum ersten Mal seit über einer Woche. Und sobald ich draußen bin, weiß ich genau, was ich tun muss, um diese unheimlichen Gefühle zu verscheuchen. Ich muss laufen. Ich darf doch bestimmt ein kurzes Stück laufen?
Die Einfahrt mündet in eine Straße, ohne Bürgersteig oder irgendetwas in der Art, eigentlich nicht für Leute ohne Auto gemacht. In einer Richtung geht es bergauf, in der anderen bergab. Ich setze mich bergab in Bewegung. Falls ich unterwegs einem Auto begegne, werde ich wahrscheinlich überfahren, aber das ist mir in diesem Moment herzlich egal.
Es fühlt sich herrlich an, wieder zu laufen, auch wenn ich nicht die richtigen Sachen dafür anhabe. Ich trage meine Laufschuhe, aber normalerweise würde ich nie in Jeans laufen. Nach ungefähr einer Viertelstunde wird mir ein bisschen heiß, ich
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