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Die letzte Aussage

Die letzte Aussage

Titel: Die letzte Aussage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Keren David
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bei uns gewohnt hast, bin ich gerade in Rente gegangen und war viel zu Hause. Du hattest eben zu sprechen angefangen, deshalb habe ich mir viel Mühe gegeben, um dich zweisprachig zu erziehen.«
    Als ich bei ihnen gewohnt habe? Was soll das heißen? Gerade als ich ihn fragen will, fällt mir etwas ein, woran ich schon ewig nicht mehr gedacht habe. Als ich noch sehr klein war, hat mir immer eine bestimmte Geschichte gefallen. Ich weiß nicht mehr, ob es ein Buch oder ein Video war, aber es ging um einen Riesen namens Grumpy, der eine besondere Sprache sprechen konnte, die nur ich verstand.
    Einmal habe ich Gran gefragt, ob sie mir diese Geschichteerzählt. Aber sie hat gesagt, dass sie die leider nicht kennt. Grumpy der Riese war der Grund dafür, dass ich überhaupt auf die Idee gekommen bin, Sprachen zu lernen. Und dass ich wusste, dass man sich eine völlig neue Welt aus Worten und Ideen erschließen kann, indem man einfach mit Leuten redet.
    War Grumpy der Riese überhaupt eine Geschichte oder ein Video? Vielleicht war es in Wirklichkeit … »Grandpère« , sage ich unsicher, und mein großer, kräftiger Großvater brummt: »Das hast du schon sehr lange nicht mehr gesagt.«
    Leider kann ich ihn nicht mehr fragen, weil Helen ins Zimmer kommt.
    »Mir reicht das jetzt mit dir und Archie«, sagt sie. »Es tut dir überhaupt nicht gut, dass du hier keinen Unterricht mehr bekommst. Komm mit, wir setzen uns an den Küchentisch und fangen gleich mit dem Prüfungswissen Mathe für die zehnte Klasse an.«
    Was? Geht es mit meinem Leben denn immer noch weiter bergab? Ich muss mein Zimmer mit einem fiesen Cousin teilen, habe weder Handy noch Computer noch Freunde, und jetzt will sie auch noch Mathe mit mir lernen? Nicht zu fassen. Ich gehe mit und setze mich an den Küchentisch, aber ich schmolle unter meiner Kapuze und verschränke die Arme vor der Brust. Mum und Gran – meine richtige Familie – hätten sofort erkannt, dass mir das überhaupt nicht passt.
    Sie hat ein paar Mathebücher mit Prüfungsaufgaben gekauft und sie hat Übungshefte und Stifte für uns bereitgelegt.Das sieht alles unangenehm ernst aus. Sie fängt auch prompt damit an, wie man Gleichungen löst. Ich kriege immer ein bisschen die Panik, wenn ein Lehrer schon mit a + b anfängt – mal ehrlich, was soll das? –, aber sie erklärt es wirklich ganz hervorragend. Alles ist von Anfang bis Ende glasklar. Archie gähnt und sagt: »Das kann ich doch schon, Großmutter«, aber ich folge jedem ihrer Schritte. Ich schaffe es sogar, die erste Aufgabe, die sie uns vorsetzt, vor Archie zu lösen.
    Helen lächelt mich an. »Machst du Mathematik gerne?«
    »Äh … eigentlich nicht.«
    »Das ist schade. Normalerweise schaffe ich es, jeden wenigstens so weit zu bringen, dass er damit über die Runden kommt.«
    »Was heißt das?« Ich fühle mich Helen gegenüber unglaublich befangen. Mehr haben wir bis jetzt noch nicht miteinander geredet. Wenn ich bei ihr bin, bin ich immer irgendwie angespannt, ich kann nicht mehr richtig sprechen, alle Worte verknoten sich in meinem Mund. Ihr scheint es ähnlich zu gehen, und obwohl ich sehe, dass sie mich besser kennenlernen will, kann ich mir nicht vorstellen, wie das gehen soll.
    Archie lacht. »Hast du nicht gewusst, dass sie Mathelehrerin war?«
    »Nein. Ach so.« Sie stellt uns ein Übungsblatt mit Gleichungen zusammen, die wir ergänzen sollen. Damit kann man sich auch beschäftigen, vermute ich, obwohl es schon ein bisschen tragisch ist, ein richtiges Leben gegen Mathe-Aufgaben einzutauschen.
    Als ich an der letzten Gleichung sitze und insgeheim hoffe, dass ich schneller als Archie bin, kommt Patrick rein. »Eben hat mich Penelope aus Chicago angerufen«, sagt er. »Archie, wir beide müssen uns heute Nachmittag eine Klosterschule ansehen, Allingham Priory. Dort ist wohl ein Platz in der achten Klasse frei, und der Rektor, Pater Roderick, würde dich gerne kennenlernen.«
    Archie sieht ziemlich erschrocken aus und ich kann mir mein Grinsen kaum verkneifen. Offensichtlich haben wir beide den gleichen Gedanken: Allingham Priory hört sich wie der Albtraum eines strengen, katholischen Internats an.
    Er geht nach oben und zieht sich um. Ich gehe hinterher. Das ist meine Chance, ihm eins reinzuwürgen, und die will ich mir nicht entgehen lassen.
    Er knöpft gerade ein sauberes weißes Hemd zu und ich klettere aufs Etagenbett. »Allingham Priory. Hört sich echt super an«, sage ich. »Und ziemlich katholisch. Bist du schon

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