Die letzte Chance - Final Jeopardy
stehen hatte; das Zimmer war mein Arbeitszimmer. Ich hatte es mir angewöhnt, die alten Ausgaben der Strafgesetzbücher und anderer juristischer Handbücher mit heimzunehmen, sobald die neuen in meinem Büro eintrafen, so daß ich Exemplare besaß, mit denen ich arbeiten konnte, und nicht eden Tag voluminöse Bücher hin und her schleppen mußte.
Das Diagnostic Statistical Manual war zwar kaum die ideale Bettlektüre, aber ich war schon so viele Male über Autopsiefotografien und ärztlichen Berichten aus Notaufnahmen eingeschlafen, daß dieses Handbuch relativ leichte Kost war. Ich holte mir den Band, den ich brauchte, ging damit zu Bett und sah im Register unter Wahnvorstellungen nach.
Das DSM unterschied klar zwischen den beiden Verhaltenskategorien, von denen David Mitchell gesprochen hatte. Das bekanntere Phänomen war die »zwanghafte Liebe«, wie er es genannt hatte. Der Artikel war faszinierend zu lesen, weil er genau auf Isabella Lascar und ihr Problem gemünzt zu sein schien. Das Handbuch bezeichnete das prototypische Opfer der zwanghaften Liebe als »sexy Schauspielerin oder Sexbombe« - das war Isabella zweifellos gewesen. In diesen Fällen hatten die Frauen, die zu Opfern wurden, ihre Belästiger gekannt, normalerweise intim, die Verfolgung setzte meist im Anschluß an eine »in die Brüche gegangene Liebesbeziehung« ein. Die Täter-die Verfolger - waren in der Mehrheit Männer, die ihre Opfer brieflich und telefonisch belästigten. Garelli und Burrell entsprachen ganz sicher dem Bild des verschmähten Liebhabers, und falls sie Jed gesagt hatte, daß auch er nichts weiter als eine Affäre für eine Woche sei, gehörte er in die gleiche Kategorie. Ich konnte es gar nicht abwarten, Mike am nächsten Tag diesen Artikel zu zeigen.
Es war unmöglich, mich jetzt durch diesen Artikel hindurchzuarbeiten, mit den zahlreichen klinischen Beispielen und einer
Unmenge von Fußnoten. Es war aber schon Donnerstag morgen - genau eine Woche, seit ich die Nachricht von Isabellas Tod empfangen hatte -, ich hatte also das ganze Wochenende Zeit, das Material zu durchforsten, um zu sehen, ob es für unsere Arbeit von Bedeutung war.
Ich überflog die Seiten, bis ich zu dem Abschnitt über Erotomanie kam. Falls Jed die Wahrheit über seine Erfahrung mit der Verfolgerin gesagt hatte, dann hatte es den Anschein, als seien er und Isabella von gegensätzlichen Aspekten einer ähnlichen Wahnvorstellung heimgesucht worden. Im Falle der Erotomanie waren - im Unterschied zur zwanghaften Liebe - die meisten Opfer Männer und die meisten Belästiger Frauen. Wie in der Situation, die Jed mir geschildert hatte, steht die verfolgte Person in keiner Beziehung zum Verfolger, der aber leidenschaftlich davon überzeugt ist, daß das Opfer die Zuneigung erwidere - wenn es nicht irgendein äußeres Hindernis gäbe. Natürlich, dachte ich, Jeds Frau wäre so ein Hindernis gewesen. Die Belästigerin hatte seine Frau immer wieder angerufen und ihr gesagt, daß Jed untreu wäre. Sobald sie die Frau aus dem Weg geräumt hätte, glaubte sie in ihrem Wahn, wäre der Weg zu Jeds Zuneigung endlich frei.
Kein Wunder, daß Isabella und Jed sich soviel zu sagen hatten. Es war wirklich verrückt.
Ich wunderte mich, warum ich den Begriff Erotomanie noch nie gehört hatte, und las weiter. »Erotomanie ist der wahnhafte Glaube, leidenschaftlich von einem anderen Menschen geliebt zu werden.« Bis zur dritten Ausgabe des DSM, also noch bis vor wenigen Jahren, war dieser Zustand nicht eigens erwähnt worden. Erst in der später veröffentlichten revidierten dritten Ausgabe - die mir vorlag - war Erotomanie als spezielle Kategorie aufgenommen worden, als nämlich Ärzte immer mehr Fälle von Patienten, die dieses ungewöhnliche Verhalten an den Tag legten, zu dokumentieren begannen.
Ich wurde langsam schläfrig, daher beschloß ich, nach den nächsten paar Absätzen aufzuhören, in denen die Geschichte der Diagnose dieses Zustands dargestellt wurde. Erstmals war er 1921 von einem französischen Psychiater namens G.G. de Clérambault dokumentiert und daher auch nach ihm benannt
worden: Clérambault-Syndrom. Die zeitgenössische Literatur sprach von einer psychose passionnelle. All die letzten Nächte, als ich in meinem Bett lag und unter einem schweren Anfall von Trennungsdepression gelitten hatte, hatte ich mich nach einer Krankheit mit einem schicken französischen Namen wie diesem gesehnt. Ich hoffte, irgendeiner obskuren Fußnote eine Andeutung zu
Weitere Kostenlose Bücher