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Die letzte Fahrt des Tramp Steamer

Die letzte Fahrt des Tramp Steamer

Titel: Die letzte Fahrt des Tramp Steamer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Álvaro Mutis
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musste sich zum Teil auf einen Kran konzentrieren, der sich alle Augenblicke verfing. Sie sah herrlich aus, und wieder überraschte ihn, wie ihre Schönheit mit jedem Wechsel der Kleidung erneut als nie zuvor gesehene Erscheinung strahlte. »Ich hätte diesen verdammten Kran zerstückeln können«, sagte er zu mir, »weil er meine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, die ich doch ganz meiner schönen Besucherin schenken wollte. In solchen Momenten führen sich die Maschinen so plump launenhaft und irritierend auf wie Menschen. Der Obermaat kam mir zu Hilfe, und ich übergab ihm die Verantwortung für die weitere Beaufsichtigung der Operation.« Warda schlug vor, in ein Restaurant an der Canebière zu gehen, dessen Inhaber, Landsleute von ihr, ihre Brüder kannten: »Zwei Dinge kann ich Ihnen dort garantieren: einen ehrlichen Wein und eine Bouillabaisse, wie sie Marschall Masséna aufgetischt wurde, als er hier vorbeikam. Wenigstens sagen das die Besitzer. Sie meinen, Masséna sei ein Marschall aus dem Weltkrieg. Lassen Sie sie unbedingt in diesem Glauben, es wäre sonst fatal für die Bouillabaisse.« Sie wartete auf Deck, während Jon rasch eine Dusche nahm und sich umzog. Das Lokal war wirklich außergewöhnlich. Der Weißwein floss mit einsichtiger Raschheit die Kehle hinunter, sodass sich das Aroma des Gerichts am Gaumen völlig frei entfalten konnte, ja geschützt durch den fruchtig-erdigen Duft des Clairette de Die vom Vorjahr. Jon fasste kurz zusammen, was er unternommen hatte, und informierte Warda über das finanzielle Ergebnis der Geschäfte, das nicht gerade brillant war, aber in etwa den Berechnungen entsprach, die sie angestellt hatte, um sich unabhängig zu machen. Der Gesprächston war so warm und spontan wie noch nie zuvor. Nun war es, als hätten beide in der Erinnerung das Bild des andern verarbeitet, und das hatte eine gemeinsame Domäne ergeben, was zwar nicht zur Sprache kam, aber bei dieser zweiten Begegnung immer gegenwärtig war. Jon fragte sie nach ihrer europäischen Erfahrung und zu welchen Schlussfolgerungen sie in diesen Monaten gelangt sei. »Ich frage Sie danach«, erklärte er, »weil ich spürte, dass Sie sich sehr auf die Erfahrung freuten, und ich enthielt mich eines Kommentars, der sich negativ hätte auswirken können. Sie sind zu intelligent, um über gewisse Hindernisse hinwegzugehen, die das europäische Abendland für die bereithält, deren Sensibilität noch nicht abgestumpft ist und die nicht einfach mit Touristenaugen sehen. Für Sie und Ihre Leute ist Europa natürlich letzten Endes ein mehr oder weniger junger Kontinent, eine Art gesetzteres Amerika. Oder irre ich mich vielleicht?« – »Ja«, antwortete sie lächelnd, »Sie irren sich vollkommen. Ich weiß nicht, weshalb Sie mir eine überdurchschnittliche Intelligenz zusprechen. Aber wie dem auch sei, wir kommen mit sehr naiven Augen nach Europa. Unser Alter wurde schon vor vielen Jahren zu einer Art Müdigkeit, Abnutzung und Verschleiß durch Bräuche und Gedanken, die uns nicht einmal mehr zum Leben in unserem eigenen Land dienen. Aber wenn ich Ihnen erzählen soll, was ich in Europa spüre, so muss ich Ihnen sagen, dass es eine langsame, aber wachsende Enttäuschung ist. Ich spüre, dass ich für ein anderes Umfeld, für andere Gegenden gemacht bin. Für welche? Ich weiß nicht, ich kann es noch nicht erklären. Aber natürlich ist es nicht direkt Heimweh nach meinem Land und meiner Kultur. Es kommt mir so vor, als wäre mir alles, was ich jetzt in Europa zu sehen und aufzunehmen versuche, schon vorher bekannt gewesen, hätte mich schon vorher gelangweilt. Vielleicht ist es für Sie klar, dass es so ist, da Sie ein Seefahrerleben ohne festen Stützpunkt führen. Ich weiß nicht. Ich wünschte mir, Sie könntens mir sagen.« Ein feuchter, verwirrter Blick heftete sich auf Iturri und wartete auf seine Worte. »Ich wusste ganz genau, was ich ihr hätte antworten sollen«, sagte der Baske zu mir, »aber gleichzeitig merkte ich, dass wir nicht mehr nur wie alte Bekannte miteinander sprachen, sondern so, als teilten wir ein wachsendes Gefühl, das zwar noch nicht explizit war, aber deutlich in der Entwicklung, die unsere Unterhaltung nehmen würde. Der Weißwein trug nicht wenig dazu bei, unsere gegenseitigen Schutzwälle und Ängste abzubauen. Wir befanden uns bereits an einem andern Punkt, in einer andern Art Beziehung. Als wir uns unsere erste Begegnung in Erinnerung riefen, kamen wir uns selbst wie Fremde vor. Wir sagten

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