Die letzte Fahrt des Tramp Steamer
ausgiebig, wie man es tut, wenn man nicht weiß, was morgen geschieht. Wardas Besessenheit, die Gegenwart mit Sinn zu erfüllen, beruhte auf einer klugen Einschätzung der geringen Möglichkeiten und unüberwindlichen Hindernisse, die unsere Beziehung bot. Wie ich ihr schon in der Bar gesagt hatte, sah auch ich nicht, wohin das führen würde. So flüchteten wir uns mit einer an Verzweiflung grenzenden Hingabe in den Genuss unserer Körper. Nackt umfing Warda so etwas wie eine Aura, die von der Vollkommenheit ihres Körpers, der Beschaffenheit ihrer geschmeidigen, leicht feuchten Haut und diesem Gesicht ausging, das sich, im Bett von oben gesehen, noch mehr wie eine delphische Erscheinung ausnahm. Es ist nicht leicht zu erklären, zu beschreiben. Manchmal denke ich, ich hätte es gar nie erlebt. Das Einzige, was mich oft vom Wunsch zu sterben abgehalten hat, war der Gedanke, mit mir würde auch dieses Bild sterben.« Wenn Iturri bei der Schilderung seiner Erfahrungen an diese Grenzen stieß, verfiel er immer wieder in ein langes Schweigen, in dem die Verzweiflung seine schmerzlichsten Sedimente aufwühlte. »Drei Tage«, fuhr er fort, »blieben wir in Lissabon im Hotel, ohne das Zimmer zu verlassen. Wir hatten es zu einer Art eigenem Universum gemacht – in einer bedächtigen Abfolge von Episoden einer mit wenig Worten vollzogenen Erotik und von gegenseitigen Bekenntnissen aus unserer Jugend und Entdeckung der Welt. Warda war nicht von einer sehr persönlichen Vorstellung des Seemannslebens abzubringen. Von meiner eigenen Erfahrung auf See konnte ich ihr nur wenig erzählen. Nichts Außergewöhnliches war mir in diesem in grauer Routine ausgeübten Beruf zugestoßen, dessen Monotonie nur von Klima- und Landschaftsveränderungen unterbrochen wurde, die sich durch das andauernde Umherreisen ergaben. Jetzt gelingt es mir nicht, die Themen unseres Gesprächs zu rekonstruieren. Ich erinnere ich mich jedoch daran, dass es aufgrund des Charakters meiner Freundin einen gelassenen, vollen Ton besaß, wo die Erforschung und Verarbeitung unseres persönlichen Bildes von der Welt und den Menschen vor der Anekdote und der Überraschung den Vorrang hatte. Warda eignete etwas von einer Seherin. Im halb wachen Zustand ihrer Empfindungen schritt sie mit der Entschlossenheit einer Nachtwandlerin voran. Hierin war sie so vollständig orientalisch wie irgendein Geist aus Tausendundeiner Nacht.«
Schließlich musste Jon aufs Schiff zurück, um vor dem Auslaufen die Zollformalitäten zu erledigen. Vom Hotel aus hatte er telefonisch den Frachtvertrag für Helsinki abgeschlossen, wo er eine wichtige Ladung Papier für Veracruz aufnehmen musste. Die ganze Zeit, die diese Geschäfte beanspruchten, begleitete ihn Warda. Zurückhaltend, aber überaus neugierig verfolgte sie die Formalitäten, in denen sie ein Mysterium sah, was Iturri zum Lachen brachte. Keiner von beiden mochte den Moment des Abschieds erwähnen, und als er gekommen war, sagte sie nur, mit einer Stimme, die natürlich klingen sollte, ohne dass es ihr gelang: »Ich erwarte dich in Helsinki. Ich werde am Hafen sein, um dich zu empfangen.« Jon erklärte ihr, er müsse über Hamburg fahren, um einige Motorteile auszuwechseln, und dafür benötige er mindestens einen Monat, denn in den Werften gebe es lange Wartezeiten. Wenn sie nach Helsinki kämen, läge die Temperatur mehrere Grad unter null. »Teil mir das Datum deiner Ankunft mit, sobald du es weißt. Ich werde am Hafen sein.« Diese Sicherheit, die sie in ihren Entschlüssen nicht zaudern ließ, war einer von Wardas Charakterzügen, die Jon am meisten anzogen. Sie hatte – um seine Worte zu gebrauchen – ›die Weisheit der Matronen meines Hauses in Ainhoa in einem Aphroditekörper‹. Zu viel für ein armes Mannesleben. Als wir zu diesem Teil der Geschichte kamen, verfiel er wieder in eine seiner Schweigepausen, vielleicht die längste von allen, die sein mehrere Nächte beanspruchendes Bekenntnis unterbrachen.
» J etzt«, begann er wieder, als ich schon glaubte, er würde nicht mehr weitersprechen und wolle sich in seine Kajüte zurückziehen, »verkettet sich meine Erzählung mit der Ihren. Ich muss Ihnen gestehen, dass mich dabei nicht so sehr Ihre Begegnung mit der Alción überrascht hat; das ist ja noch ein recht erklärbares Zusammentreffen. Was mich außerordentlich verwirrt und in Wirklichkeit dazu gebracht hat, Ihnen meine Geschichte zu erzählen, ist ein anderer Zufall, dieser freilich in
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