Die letzte Fahrt des Tramp Steamer
zu arbeiten. Im Magenmund nahmen ihm ein lebloses Gewicht, ein Druck den Appetit. Die Fahrt von den Azoren zur portugiesischen Hauptstadt wurde zu einer wahren Tortur für ihn. Manchmal dachte er sogar, er habe Fieber. Er überlegte sich umsonst, mit fünfzig Jahren, wo er schon glaubte, diese Art Erfahrungen vor langer Zeit aus dem Gedächtnis gestrichen zu haben, sei es etwas Besorgnis erregend, in eine Sackgasse zu geraten, wo er, falls er weiterzugehen wagte, höchstens einen wohlverdienten Korb bekäme. Als er in die Tejo-Mündung einfuhr, schlug ihm das Herz wie einem Halbwüchsigen auf einer Parkbank.
Er fand keine Mitteilung vor. So suchte er einige Kunden auf, mit denen er einen Transport Olivenöl und Dessertwein nach Helsinki zu vereinbaren hatte. Zusehends näherte sich der Herbst seinem Ende, und Lissabon zeigte sein trüb-trauriges Gesicht, das so gut zu den Fados passt, die die Touristen in den Lokalen zu genießen vorgeben. Mit großer Erschöpfung, die ihn im Innern wie der Beginn einer Tropenkrankheit quälte, ging er zum Hafen. Er hatte jedes Interesse an der Alción verloren, und als er sie aus der Ferne mitten in der Bucht vor Anker liegen sah, wo sie darauf wartete, zu den Molen einfahren zu können, weckte die verlotterte Erscheinung des Tramp Steamer in ihm eine mit Ekel durchsetzte Verärgerung. Als er gerade ins Boot steigen wollte, das ihn zurückbringen sollte, hörte er von fern eine Frauenstimme rufen: »Jon! Jon! Warten Sie auf mich!« Warda rannte die Straße zum Hafen herunter. Sie trug eine cremefarbene Hose und eine rote Bluse. Mit einem hellbeigen Pullover winkte sie ihm, damit er sie sähe. Er blieb auf der Mole stehen, während in ihm ein Glücksgefühl aufstieg. Als Warda neben ihm stand, gab sie ihm einen Kuss auf die Wange, den er nur mit einem leichten Streifen der feuchten Haut dieses Gesichts, das ihn schon seit so langer Zeit verfolgte, zu erwidern vermochte. Wortlos hakte sie den Kapitän unter und führte ihn ins Stadtzentrum. Sie überquerten die Avenida Cuatro de Agosto und gingen durch die Rua do Alecrim. Sie meinte, in den Gässchen des Bairro Alto würden sie sicherlich irgendeine offene Bar finden. »Ich dachte, Sie kämen nicht mehr. Ich stellte mir vor, Sie wären auf dem Weg zu den heiligen Orten der slawischen Orthodoxie.« – »Einstweilen gibt es eine andere Orthodoxie, mit der es ins Reine zu kommen gilt.« Sie schaute ihn mit Vorsatz an und amüsierte sich über das Gesicht, das er offenbar aufsetzte. Iturri konnte, wie alle Basken, seine Gefühle nicht verbergen. »Wir fanden eine Bar, und dort setzten wir uns hin, um uns langsam, aber in aller Offenheit unsere Gefühle zu enthüllen. Ich gestand ihr, wenn sie nicht erschienen wäre, wäre ich entschlossen gewesen, nach Australien abzufahren, um dort in den Küstenhandel einzusteigen«, sagte Jon, und in seiner Stimme war auch nach so vielen Jahren noch eine ungewöhnliche Verzweiflung spürbar. Er erinnerte sich nur an sehr wenig von dem, worüber sie sprachen. Ohne diese Ruhe und reife Gelassenheit zu verlieren, die ihrer Jugend so viel Charme verlieh, gestand sie ihm, die angestrebte europäische Erziehung sei ins Wasser gefallen, und vorläufig interessiere es sie nur, bei ihm zu sein. Es gebe etwas an ihm, was sie mit einer bis dahin unbekannten Kraft erfülle. Das sei alles, was sie wolle. Sie glaube nicht, dass ihnen die Zukunft auch nur die geringste Chance gebe, zusammen etwas aufzubauen. Auch das sei für sie nicht wichtig. Im Moment müsse sie diese Erfahrung ausleben. Sich in einer Gegenwart einrichten, die sie wie die Luft zum Atmen brauche. Jon stammelte einige Vorbehalte über den Unterschied von Alter, Nation und Sitten. Warda zuckte die Schultern und antwortete mit nachtwandlerischer Sicherheit, weder glaube er, was er da sage, noch habe etwas davon irgendeine Bedeutung. Es war sechs Uhr abends, und zu einigen Tellern mit frittiertem Fisch, dessen Qualität und Geschmack absolut zu vergessen war, hatten sie mehrere Flaschen Vinho verde getrunken. Als sie ins Hotel in der Avenida da Liberdade kamen, versuchten sie sicher und natürlich aufzutreten. Jon trug sich als Wardas Mann ein, und beim Hinauffahren in den vierten Stock umarmten sie sich so heftig, dass sich der Fahrstuhlführer mehrmals nach ihnen umdrehen musste, um sich zu vergewissern, dass sie noch atmeten. Auf dem Weg von der Tür zum Bett ließen sie alle Kleidungsstücke fallen.
»Wir liebten uns immer wieder, so langsam und
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