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Die letzte Fahrt des Tramp Steamer

Die letzte Fahrt des Tramp Steamer

Titel: Die letzte Fahrt des Tramp Steamer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Álvaro Mutis
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es nicht. In diesem Fall brauchte es keine Worte. Wenigstens nicht die, die direkt und brutal auf diese Veränderung angespielt hätten. Wir nahmen sie wahr, und nur das war wichtig.
    Unter diesen Umständen mehr oder weniger allgemeine und bekannte Gedanken über Wardas ›europäische Erfahrung‹ aneinander zu reihen, war ziemlich unnütz, und außerdem war es nicht das, was sie hören wollte. Ich sagte ihr, mir erscheine es entscheidend, dass sie sich ihre Freiheit, ihre geistige Offenheit bewahre. Die Antworten, Erfahrungen und Veränderungen würden sich von selbst einstellen. Die Alción verspreche weiterhin Gewinn abzuwerfen, sodass sie ihre Erziehung des Herzens fortsetzen könne – ein Begriff, der sie für einen Moment die schwarzen Brauen runzeln ließ, die sonst fast immer ruhig und unbeweglich waren. Ich erklärte ihr, der Begriff umfasse einen viel weiteren Bereich als das einfache ›Gebiet der Liebe‹. Plötzlich machte sie mir ein Geständnis, das endgültig den Anfang einer gemeinsamen Geschichte bedeutete. ›Ich weiß, was Sie meinen. Was das betrifft, was Sie das Gebiet der Liebe nennen, das habe ich abgeschritten, und zwar mehr, als Sie bei meinem Alter annehmen können. Sie dürfen nicht sehr an diese moslemische Überwachung glauben. In meinem Leben habe ich mehrere Männer gehabt. No regrets. Aber auch keine Erinnerung, die zu bewahren sich lohnen würde. Nachdem das gesagt ist, lassen Sie uns also mit meiner Erziehung des Herzens fortfahren. Ich rechne auf Ihre Hilfe.‹ Ich sagte ihr, die habe sie schon seit langem. ›Aber ich weiß nicht‹ fügte ich hinzu, ›was ein Fünfzigjähriger wie ich dazu Gültiges, Positives beisteuern könnte.‹ – ›Sie haben es schon getan, und es ist verbucht.‹ Zum ersten Mal schaute sie mich mit einem offen und vergnügt kokettierenden Blick an, der mich in den Zustand dieser Katzen versetzte, die vom Dach fallen und einen Moment lang nicht genau wissen, was geschehen ist und wo sie sind. Mitternacht war schon vorüber, als wir das libanesische Lokal verließen. Plötzlich hielt sie ein Taxi an, verabschiedete sich etwas überstürzt von mir und sagte: ›Ich gehe ins Hotel, um ein wenig Schlaf nachzuholen. Auf der Reise habe ich keine Minute geschlafen. Ich vermute, die Mole liegt wenige Schritte von hier entfernt, nicht wahr?‹ Nein, die Mole war sehr viel weiter als ihr Hotel, aber das mochte ich ihr nicht sagen. Offensichtlich wollte sie unser Gespräch nicht fortsetzen; sie schützte sich vor etwas, vor einem Impuls, vielleicht vor der Weiterführung unserer Unterhaltung in diesem intimen Ton. Als sie schon im Taxi saß, kurbelte sie das Fenster hinunter, um mich zu fragen, wohin ich von Marseille aus zu reisen gedächte. ›Nach Dakar, um eine Fracht für die Azoren zu laden, und von dort, ebenfalls mit einer Fracht, nach Lissabon.‹ – ›Wir sehen uns in Lissabon.‹ Ihre Augen waren weit geöffnet, als wöge sie einen geheimen Reiz dieser Stadt ab.«
    Iturri nickte zustimmend und wartete auf ein weiteres Taxi, das ihn zu den Molen brachte. Während er zahlte und das Trinkgeld für den Fahrer abzählte, merkte er, dass er endgültig und hoffnungslos verliebt war. »Wie ein Schüler«, sagte er, »wie ein armer, wehrloser, verwirrter, ängstlicher Schüler. Seit vielen Jahren hatte ich mich nicht mehr so gefühlt.« Die ganze Nacht tat er kein Auge zu, und am nächsten Tag nahm er mit schrecklichen Kopfschmerzen Kurs auf Dakar, inmitten eines dieser sommerlichen Regengüsse, die das Mittelmeer zu einem Dampfbad machen. Er dachte, nun sei der Moment gekommen, die Alción zu streichen. Die Frivolität des Gedankens ließ ihn erröten. Er hätte auch gar keine Zeit gehabt, es zu tun. Das ganze Jahr war vergeben mit Aufträgen alter Bekannter, die auf seine Zuverlässigkeit bauten und ihm helfen wollten. In Dakar dauerte der Ladevorgang sehr viel länger als vorgesehen. Als er zu den Azoren kam, hatte der Herbst schon begonnen. Er erinnerte sich, dass Warda ihm gesagt hatte, sie habe vor, zum Herbstende die großen Heiligtümer der russischen Orthodoxie – Sagorsk, Nowgorod und so weiter – zu besuchen. Die Vorstellung, sie in Lissabon nicht mehr zu sehen, begann ihn zu peinigen. Wieder ein Gefühl, das er seit langem nicht mehr erlebt hatte – die Erwartung eines Glücks, das wir als unaufschiebbar empfinden und das uns mit jedem Tag ungewisser wird. Eine kleine Hölle, die ihm den Schlaf raubte und ihn daran hinderte, mit wachem Geist

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