Die letzte Flucht
Straße und stoppten den hellgrünen Sprinter. Drei Beamte zogen den Fahrer aus dem Wagen, warfen ihn auf den Boden und fesselten ihm die Hände auf dem Rücken. Zwei Beamte lenkten andere Wagen um und schafften so eine freie Fläche, auf der der Pilot landen konnte.
Kommareck rannte auf die Hinterseite des Lkws, winkte drei Polizisten herbei und gab ihnen Anweisungen. Sie zogen ihre Waffen, einer öffnete die Tür, dann sprangen sie hinein.
»Voss ist genau da, wo ihr jetzt seid«, sagte Heidrich aus der Einsatzzentrale. »Ihr müsstet ihn haben.«
Die Puppen standen noch genau wie zuvor. Die Polizisten stießen sie an. Es waren nur Puppen – kein Mensch war zu sehen.
»Hier ist niemand, Frau Hauptkommissarin«, sagte einer.
Da bemerkte er, dass bei einer der Puppen die linke Jackettseite deutlich ausgebeult nach unten hing. Er griff in die Seitentasche und zog ein Handy heraus.
»Vielleicht suchen wir das?«, fragte er.
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40. Bauchhöhle
Bernhard Voss saß länger als eine Stunde in seinem Versteck. Als der Wagen hielt, kletterte er hinter der Rindshälfte hervor, in die er sich verkrochen hatte, als der Beamte den Wagen untersuchte. Er hatte mit den Füßen auf dem Rippenbogen gestanden und sich in die Bauchhöhle des Tieres gepresst. Mit einer Hand hatte er eine andere der hängenden Hälften zu sich herangezogen.
Er öffnete die Tür und sprang von der Ladefläche. Geduckt lief er auf den Bürgersteig. Es war dunkel. Einige Häuser standen am Rand. Dazwischen Wiesen, Weiden, dahinter Wald. Er hatte keine Ahnung, wo er war.
Jetzt erst, im Kontrast zur frischen Luft, nahm Voss den Geruch des rohen Fleisches umso intensiver wahr: Der Gestank überwältigte ihn fast. Er bog in einen Feldweg ein und zog sein Jackett aus, an dem Gewebereste und Fleischpartikel hingen. Er dachte plötzlich an das arme Mädchen, das umgebracht worden war. Er sank erschöpft zu Boden und weinte, zum ersten Mal seit vielen Jahren.
***
»Er wollte in die Charité? Da sind Sie sich ganz sicher?«, fragte Schöttle.
»Sicher bin ich sicher«, sagte der Taxifahrer. »Er hat’s so gesagt.«
»Und Sie haben auf seinen Wunsch gehalten. Er ist ausgestiegen und hat telefoniert?«
»Das hab ich jetzt schon drei Mal erklärt. Dann hab ich gehupt, weil ich in einer Ausfahrt stand und wartete. Dann stieg er wieder ein, und ich fuhr los bis zum Tiergartentunnel.«
»Verstehst du das?«, fragte Schöttle. »Warum will der Kerldahin, wo ihn jeder kennt und wo wir ihn garantiert schnappen?«
Finn Kommareck stand auf.
»Wir gehen nach Hause. Morgen kriegen wir ihn.«
»Du hast echt schon überzeugender geklungen«, sagte Maria.
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41. Joggen
Finn Kommareck und ihr Mann standen jeden Morgen um sechs Uhr auf. Finn sprang mit dem ersten Läuten des Weckers aus dem Bett, während Daniel schlaftrunken hinter ihr her ins Bad torkelte. Sie wuschen sich das Gesicht, putzten die Zähne und schlüpften in ihre Trainingsanzüge. Kurz vor halb sieben parkten sie Daniels Renault in der Nähe der österreichischen Botschaft, gingen ein paar Schritte zum überdachten Denkmal von Richard Wagner gegenüber der baden-württembergischen Landesvertretung und joggten los.
Nichts sprach dafür, dass bei diesem Lauf etwas Besonderes geschehen würde. Es war ein Morgen wie jeder andere. Sie liefen jeden Tag um diese Zeit, im Sommer und im Winter. Wenn es kalt und dunkel war und womöglich noch Eis und Schnee auf den Wegen lagen, lief Daniel ungern. Er kam eigentlich nur mit, weil er nicht wollte, dass seine Frau allein im dunklen Tiergarten joggte. Im letzten Winter hatte Finn in einem Sportgeschäft Überzieher für die Sportschuhe entdeckt, die den Sohlen auf dem Schnee durch Spiralfedern festen Halt gaben. Obwohl er streng darauf geachtet hatte, während des Laufens nur durch die Nase einzuatmen, spürte er bereits nach wenigen Laufschritten, wie die kalte, trockene Luft in den Bronchien einen stechenden Schmerz hervorrief. Selbst das Halstuch, das er sich vor Nase und Mund band, half nichts. Er lag danach eine Woche lang im Bett, und Finn lief allein.
Aber heute würde es ein schöner Herbsttag werden. Finn lief neben ihm wie eine Maschine. Es war üblich, dass er ihr nach ein paar Minuten nicht mehr folgen konnte. Beim Abschlussspurt auf der Großen Stern-Allee würde sie aufdrehen, und die Distanz auf hundert Meter erweitern. Sie rannte ihm jedes Mal davon. Daniel lief, so schnell es seine Beine und seine Muskulatur hergaben, aber gegen
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